Positionspapier zur Internationalisierung der Hochschulbildung

Beschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschafts-, Hochschul- und Technologiepolitik von Bündnis 90/Die Grünen vom September 2003

1. Einführung

Bündnis 90/Die Grünen stehen auch in der Bildungspolitik für eine solidarische Gesellschaft, für internationale Verständigung, für die freie Entfaltung der Person und für individuelle Entscheidungsoptionen in einer Vielfalt von Angeboten. Im Rahmen der laufenden Internationalisierungsprozesse von Bildung, Wissenschaft und Forschung sehen wir die Chance, hier einen wesentlichen Schritt voranzukommen. Dafür sind wesentliche Voraussetzungen: die Erleichterung der Mobilität von Lehrenden und Lernenden, die erhöhte Transparenz bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen und Studienleistungen, die Öffnung des Zugangs zur Bildung und eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen den Bildungseinrichtungen.

Aktuell wird die Internationalisierung von Hochschulsystemen durch folgende politische Prozesse bestimmt:

I. Bologna-Prozess

Im Juni 1999 unterzeichneten die europäischen BildungsministerInnen eine gemeinsame Erklärung, die den „Bologna-Prozess“ eingeleitet hat. Er hat drei wesentliche Ziele:

  1. Die Erhöhung der Mobilität von Lehrenden und Lernenden,
  2. die Erweiterung der Beschäftigungsmöglichkeiten der AbsolventInnen und
  3. eine verstärkte internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Diesen Zielen soll die Entwicklung eines europäischen Hochschulraums dienen. Als wesentliche Schritte auf dem Weg zum europäischen Hochschulraum werden folgende Gesichtspunkte benannt: 

  • die Verbesserung der Vergleichbarkeit von Studiengängen und die Steigerung der Transparenz von Studienabschlüssen;
  • die Einführung eines gestuften Studienaufbaus;
  • die Einführung eines Kreditpunktesystems (zum Beispiel des ECTS);
  • die Förderung der Mobilität von Lehrenden und Lernenden;
  • die Kooperation im Bereich der Qualitätssicherung auf europäischer Ebene;
  • die Förderung der europäischen Dimension im Bereich der tertiären Bildung.

Dem „Bologna-Prozess“ ging die Unterzeichnung der Konvention von Lissabon („Lisbon Convention of Recognition“) von 1997 durch 27 Staaten voraus. Ziel dieser Vereinbarung war es, in den Unterzeichnerstaaten erworbene Berufsqualifikationen und Hochschulabschlüsse gegenseitig als Zugangsberechtigungen zum Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt anzuerkennen. Von den Unterzeichnerstaaten haben jedoch bisher nur 15 die Erklärung ratifiziert. Auch Deutschland hat die Ratifizierung noch nicht vorgenommen, da eine Einschränkung der Kontrolle über die Studieninhalte und Qualifikationen in Studiengängen mit Staatsexamina befürchtet wird.

Im Rahmen des „Bologna-Prozesses“ stehen die Zusammenarbeit der beteiligten Länder und die Harmonisierung der nationalen Hochschulsysteme im Vordergrund. Wir verstehen diese Harmonisierung als Erleichterung der Vergleichbarkeit der verschiedenen nationalen Bildungssysteme, nicht aber als bloße Angleichung der Systeme aneinander. Auf Grund der Struktur des „Bologna-Prozesses“ ist eine Ausweitung und Intensivierung der Kooperation über die bisher am Prozess beteiligten Staaten hinaus jederzeit möglich.

II. Lissabon-Prozess

Auf einer Sondertagung im März 2000 in Lissabon hat sich der Europäische Rat auf ein neues strategisches Ziel für die Europäische Union festgelegt. Der damit eingeleitete „Lissabon-Prozess“ soll bis zum Jahr 2010 aus der  europäischen Union den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen. Dabei spielt der Bildungsbereich eine wichtige Rolle – sowohl für die Beschäftigungspolitik, da es um die
Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit geht, als auch für die Wirtschaftspolitik, da nur gut ausgebildete Beschäftigte Spitzenleistungen erbringen und die europäische Wirtschaft international wettbewerbsfähig machen können. Die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung („Lebenslanges Lernen“) gehört zu den Schlüsselstrategien, um das vom Europäischen Rat in Lissabon formulierte Ziel zu erreichen. Da die Europäische Union äußerst begrenzte Kompetenzen im Bildungsbereich hat, soll die Konvergenz der nationalen Politiken durch die Methode der sog. „offenen Koordination“ von relevanten staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren erreicht werden.

III. GATS-Verhandlungen

Schließlich ist die Internationalisierung der Hochschulbildung auch Bestandteil der GATS-Verhandlungen (General Agreement on Trade in Services) im Rahmen der WTO (World Trade Organisation). Das GATS wurde zum weitgehenden Abbau bestehender Handelsbarrieren für Anbieter von Dienstleistungen ins Leben gerufen, um auf diesem Wege den internationalen Handel mit Dienstleistungen zu fördern. Handelshemmnisse sollen in einer Reihe aufeinander folgender Verhandlungsrunden schrittweise abgebaut werden, um eine Liberalisierung zu Gunsten der Dienstleistungsanbieter zu erreichen. In diesem Vertragswerk wird die Bildung in eine Reihe mit anderen Dienstleistungen gestellt und hinsichtlich des Marktzugangs und der „Inländerbehandlung“ sukzessive liberalisiert. Besonders problematisch ist dabei die faktische Unumkehrbarkeit eingegangener Liberalisierungsverpflichtungen, welche den politischen Entscheidungsspielraum und die Einflussmöglichkeiten der teilnehmenden Staaten erheblich
beschränkt.

Das GATS und die Regeln der WTO sind, im Gegensatz zum „Bologna-Prozess“, rechtlich bindend. Das GATS als völkerrechtliches Vertragswerk hat Vorrang vor nationalen Gesetzen. Bei Zuwiderhandlungen gegen Bestimmungen des GATS kann die WTO Sanktionen verhängen. Da im GATS wesentliche Mechanismen des Marktzugangs geregelt werden, ohne dass soziale und ökologische Mindeststandards zu Grunde gelegt werden, schränkt dies de facto die nationalen politischen Entscheidungsspielräume erheblich ein. Vielmehr werden die Interessen der  Denstleistungsanbieter in den Vordergrund gestellt. Inhaltlich-fachliche Gesichtspunkte, die Interessen der Allgemeinheit und der länderübergreifende Kooperationsgedanke sind im Rahmen des GATS von nachrangiger Bedeutung.

2. Die Mobilität von Lehrenden und Lernenden fördern

Bündnis 90/Die Grünen begrüßen und unterstützen ausdrücklich das mit der Internationalisierung der Hochschulbildung verbundene Ziel, die Mobilität der Lehrenden und Lernenden zu erleichtern und zu fördern. Dies gilt für Studierende, DozentInnen und WissenschaftlerInnen aus Deutschland, die einen Teil ihres Studiums bzw. ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit im Ausland absolvieren, genauso wie für ausländische Studierende, Lehrende und Forschende, die nach Deutschland kommen. Da Lehrende meist auch Forschende sind, müssen der europäische Hochschul- und Forschungsraum eng miteinander verknüpft werden.

Wir sind der Auffassung, dass im Vergleich zu heute zukünftig deutlich mehr Lernende die Möglichkeit erhalten müssen, Teile ihrer Ausbildung im Ausland zu absolvieren, und zwar sowohl im Bereich der Berufsausbildung als auch an Hochschulen und in anderen tertiären Bildungseinrichtungen. Hierfür müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Politischen Handlungsbedarf sehen wir in folgenden Feldern:

  1. der ausreichenden finanziellen Unterstützung von mobilen Lernenden, wobei sich diese an den Lebenshaltungskosten im Gastland orientieren sollte,
  2. der weiteren Vereinfachung des Arbeits- und Aufenthaltsrechts und seiner Umsetzung für ausländische Studierende in Deutschland,
  3. der Unterstützung auswärtiger Studierender, beispielsweise durch studentische TutorInnen oder die Bereitstellung von hochschulnahem und finanziell günstigem Wohnraum. Dabei ist vor allem darauf zu achten, dass für alle Studierende ein gleichberechtigter Zugang gegeben ist.
  4. der Erhöhung der Transparenz und Erleichterungen bei der Anerkennung von Studienabschlüssen durch die bundesweit einheitliche Einführung des „Diploma Supplement“, das einem Hochschulabschluss beigefügt wird und Art, Niveau, Kontext, Inhalt und Status des absolvierten Studiengangs erläutert sowie eine kurze
    Beschreibung des nationalen Hochschulsystems beinhaltet,
  5. der bundesweit einheitlichen Einführung eines Kreditpunktesystems vergleichbar mit ECTS, das sich am Arbeitsaufwand der Studierenden orientiert und eine Akkumulierung von Kreditpunkten zulässt,
  6. der verstärkten Einführung gestufter Studiengänge, wobei die inhaltliche, didaktische und strukturelle Ausgestaltung und demokratische Mitbestimmung im gesamten Prozess der Einführung dieser Studiengänge weiterhin kritisch beobachtet werden muss,
  7. der verstärkten Förderung europäischer Studiengänge und Doppelabschlüsse,
  8. der kostenfreien und dem Bedarf angemessenen Bereitstellung von Informationen und individuellen Beratungsangeboten zu Studienmöglichkeiten,
  9. der Bereitstellung kostenfreier Sprachkurse und landeskundlicher Einführungen, mit einem einheitlich hohen Qualitätsstandard.

Angesichts der anhaltend hohen Präferenz von Lernenden, Lehrenden und Forschenden, im Falle eines Auslandsaufenthaltes sich für Westeuropa oder die USA zu entscheiden, sehen wir die Notwendigkeit, das Interesse für Studien- und Arbeitsaufenthalte in den Ländern Ost- und Südosteuropas zu steigern. Insbesondere die beiden zuletzt genannten Punkte sind von grundlegender Bedeutung für eine Verstärkung der Mobilität von West nach Ost, denn diese scheitert häufig schon an Informationsdefiziten und Sprachhemmnissen.

3. Mobilität sozial gerecht gestalten

In der politischen Diskussion über einen europäischen Hochschulraum werden die sozialen Bedingungen für die Aufnahme und Durchführung eines Studiums kaum beachtet, obwohl nationale wie internationale Studien belegen, dass ein Studium, vor allem aber ein Auslandsaufenthalt, stark an die finanzielle Leistungskraft der Studierenden bzw. der Eltern von Studierenden geknüpft sind. So verbringen deutlich weniger Studierende, die aus einem einkommensschwachen Elternhaus kommen, einen Teil ihres Studiums im Ausland.

Mobilität bedarf sozialer Absicherung. Daher muss der europäische Hochschulraum durch neue Finanzierungsmöglichkeiten gewährleisten, dass Studierende unabhängig von der sozialen und kulturellen Herkunft mobil sein können. Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür ein, dass das Stipendienwesen und die  Elternunabhängige Ausbildungsförderung europaweit ausgebaut werden. Die im nationalen Rahmen gesicherte Gebührenfreiheit des Erststudiums sollte auch im Ausland gesichert werden, etwa durch die Erstattung von Studiengebühren im Rahmen der Ausbildungsförderung oder durch gebührenfreie Studienplätze im Rahmen bilateraler Abkommen zwischen Hochschulen.

Ein europäischer Hochschulraum, in dem soziale Unterschiede und soziale Hürden nicht berücksichtigt und abgebaut werden und der nicht mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern mit sich bringt, ist für uns nicht akzeptabel.

4. Anerkennung erleichtern und transparenter gestalten

Bündnis 90/Die Grünen sehen in der gegenseitigen Anerkennung, der erhöhten Transparenz und der besseren Vergleichbarkeit von Berufsqualifikationen und Studienleistungen eine wesentliche Voraussetzung zur Förderung der Mobilität. Gleichzeitig werden damit die Berufsbefähigung und die Jobaussichten von Studierenden und  AkademikerInnen über die nationalen Grenzen hinweg verbessert.

Hierbei spielt die Umsetzung der Konvention von Lissabon eine zentrale Rolle. Wegen der fehlenden Ratifizierung durch viele Unterzeichnerstaaten ist die Anerkennung von Berufsqualifikationen und Studienleistungen nicht ausreichend gesichert. Wir fordern, dass die Bundesrepublik Deutschland, als eines der Unterzeichnerstaaten der „Lissabon-Konvention“, diese endlich ratifiziert und die Anerkennung von Berufsqualifikationen und Studienleistungen entsprechend gesetzlich regelt. Die Bundesländer sind in diesen Prozess einzubinden.

Gleichzeitig müssen Informationen über den Aufbau des deutschen Bildungssystems und zur Anerkennung von Studienleistungen anderer Länder in Deutschland leicht zugänglich, verständlich und vielsprachig verfügbar sein. Die Bedingungen des Anerkennungsprozesses müssen transparent und die individuelle Beratung durch die zuständigen Einrichtungen bei Anerkennungsgesuchen von Studierenden garantiert sein. Bei Ablehnung eines Anerkennungsgesuchs soll zudem der rechtsfähige Nachweis der Nichtgleichwertigkeit von Studienleistungen bei der für die Anerkennung zuständigen Einrichtung liegen. Die Beweispflicht darf nicht dem/der Studierenden selbst aufgebürdet werden.

5. Qualität international sichern

Im Bereich der Qualitätssicherung von Bildungsangeboten auf europäischer und internationaler Ebene sehen wir einen erheblichen Nachholbedarf.

Die Umsetzung des konsekutiven Studienmodells und die Einführung von Kreditpunktesystemen erfordert beispielsweise in Deutschland eine inhaltliche Studienreform. Eine einfache Umetikettierung alter Abschlüsse gefährdet die Qualität der Ausbildung. Die Hochschulen sollten sich zu diesem Studienreformprozess bekennen, er sollte Kriterium bei der Akkreditierung neuer Angebote sein.

Wir befürworten die in der Erklärung von Bologna geforderte Zusammenarbeit auf europäischer Ebne, die Harmonisierung von Qualitätsstandards und die Entwicklung von Methoden zur Qualitätssicherung. Wir sehen hier jedoch die verstärkte Notwendigkeit, alle relevanten Gruppen in diesen Prozess einzubeziehen. Auf bundesdeutscher Seite sollten Studierendenorganisationen und Gewerkschaften stärker eingebunden und der zwischen KMK,
BMBF und HRK erfolgende Koordinierungsprozess sollte transparenter werden.

Über diese in Bologna auf europäischer Ebene getroffenen Verabredungen hinaus existieren bisher keine weiteren internationalen Vereinbarungen zur Qualitätssicherung. Hier sehen Bündnis 90/Die Grünen erheblichen Nachbesserungsbedarf, da einige Formen international angebotener Bildungsprogramme unabhängig von nationalen Bildungssystemen existieren und damit keinem System der Qualitätssicherung unterliegen.

Wir treten dafür ein, den Lissabon-Prozess nicht auf kurzfristige ökonomische Ziele zu verengen, sondern eine insgesamt vorsorgende gesellschaftliche Entwicklung anzustreben. Wir unterstützen den Informationsaustausch und das Benchmarking entsprechend der Methode der offenen Koordination. Eine Bewertung ausschließlich nach Outputkriterien ist jedoch der Komplexität gerade des Bildungsbereichs nicht angemessen, sondern muss um qualitative Verfahren ergänzt werden. Zudem sollte der Prozess des Benchmarkings transparent, öffentlich
und unter Einbeziehung aller betroffenen Gruppen aus dem Bildungsbereich und der Wirtschaft erfolgen.

6. Zugänge und Übergänge erleichtern und öffnen

Bündnis 90/Die Grünen sehen die laufende Internationalisierung des Bildungssystems auch als eine große Chance zur Erhöhung der Vielfalt des Angebots, insbesondere im Bereich der tertiären Bildung in Deutschland, zur Öffnung des Bildungssystems, zur Erhöhung der Bildungsbeteiligung der Individuen sowie zur gesteigerten Durchlässigkeit innerhalb der einzelnen Bildungsbereiche an.

Wir befürworten und unterstützen eine solche Entwicklung ausdrücklich, da sie die Entscheidungsspielräume für Individuen erweitert. Wir fordern Bund und Länder auf, die Bildungsbeteiligung durch höhere staatliche Investitionen in allen Bildungsbereichen ihrerseits zu fördern. Auch die noch immer bestehenden sozialen Ausschlussmechanismen innerhalb des deutschen Bildungssystems müssen endlich beseitigt und Chancengleichheit im Bildungsprozess für alle Mitglieder der Gesellschaft umgesetzt werden.

Der Übergang vom Bachelor zum Master, der Zugang zu Masterstudiengängen im Rahmen von Weiterbildungsprogrammen sowie der Zugang zu Masterstudiengängen mit einer qualifizierenden Berufsausbildung müssen als flexible und individuelle Zugänge zu Bildungsprogrammen nutzbar sein. Die Chancen, die das System der gestuften Studiengänge und die Modularisierung der Studienangebote bietet, müssen auch genutzt werden können:
Individuelle Qualifikationsprofile und das Verteilen von unterschiedlichen Studien- und Bildungsphasen auf verschiedene Lebensabschnitte müssen möglich sein, ohne dass bürokratische oder finanzielle Hürden oder starre Übergangsquoten (wie in der KMK diskutiert) hierfür errichtet werden.

Diese Flexibilisierung des Bildungssystems ist nicht gleichbedeutend mit einem Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Bildungsinstitutionen und darf auch nicht so verstanden werden. Eine Beschränkung des Bildungszugangs der Individuen darf es nicht geben – erst recht nicht auf der Basis der sozialen Herkunft oder der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

 7. GATS und Bildungsdienstleistungen: Freizügigkeit der Lernenden geht vor Freiheit der Anbieter

Zwischen dem „Bologna-Prozess“ und der Behandlung von Bildungsdienstleistungen im Rahmen von GATS gibt es eine Reihe gemeinsamer Ziele, wie beispielsweise die Forderungen nach Mobilität, gegenseitiger Anerkennung von Qualifikationen und Transparenz staatlicher Regelungen. Allerdings werden zur Zielerreichung unterschiedliche politische Strategien eingesetzt. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Prozessen besteht darin, dass im
Rahmen des „Bologna-Prozesses“ Bildung nicht als Dienstleistung betrachtet wird, die im Wettbewerb erbracht und auf einem internationalen Markt angeboten wird, sondern als öffentliche Aufgabe im Rahmen der Daseinsvorsorge.

Bündnis90/Die Grünen treten seit langem für die Stärkung der Autonomie der Bildungseinrichtungen, für einen effizienten Mitteleinsatz und für aufgabengerechte Strukturen ein. Ein fairer Wettbewerb zwischen den  Bildungseinrichtungen, auch zwischen privaten und staatlichen Bildungseinrichtungen, kann dazu einen Beitrag leisten. Dennoch bleibt Bildung ein besonderes Gut, wie beispielsweise der Entwurf der europäischen Verfassung zeigt, in dem in Artikel II-14,1 und Artikel II-21 das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung verankert ist. Bildung kann deshalb nicht als Dienstleistung wie jede andere behandelt und der Freihandelslogik des GATS  unterworfen werden. Sie ist eine grundlegende gesellschaftliche Notwendigkeit auf dem Weg in die Wissensgesellschaft. Zudem sollte die historisch gewachsene Vielfalt der Bildungssysteme nur so weit angeglichen werden, wie es zur Erhöhung der Mobilität und der Zugangsmöglichkeiten notwendig ist.

Würde Bildung streng nach der Logik des GATS behandelt, entstünden eine Reihe von Widersprüchen und unerwünschten Effekten:  

  • Die Mobilität im Rahmen des „Bologna-Prozesses“ und im Rahmen von EU-Mobilitätsprogrammen bezieht sich vor allem auf Studierende und Lehrende. Die Mobilität im Rahmen von GATS bezieht sich primär auf die AnbieterInnen, die frei ihre Standorte wählen.
  • Die Mobilität von Studierenden zwischen den Bildungseinrichtungen wird durch GATS dagegen erschwert: Bisher basiert die Studierendenmobilität auf nicht profitorientierten Kooperationsvereinbarungen, die vor allem fachlich begründet sind. Sollte sich die öffentliche Hochschulbildung nach GATS-Kriterien ausrichten, werden Elemente der Konkurrenz in den bisherigen Kooperationsbeziehungen dominieren. Die Hochschulen
    werden sich bemühen, ihre zahlenden „Kundinnen“ und „Kunden“ zu halten und die gewünschten Auslandsaufenthalte im Rahmen eigener Dependancen im Ausland anzubieten – wie das an amerikanischen (Beispiele: die Berliner Niederlassungen der Stanford University und der Duke University Durham) und auch japanischen Universitäten (Beispiel: Berlin Campus der Teikyo University) bereits zu beobachten ist.
  • Auf europäischer Ebene soll die Mobilität durch Anerkennungsverhandlungen, gemeinsame Lehrplanentwicklung und durch europäische Förderprogramme erhöht werden. Dadurch entsteht ein Subventionsbedarf, der nicht konform mit GATS ist.
  • Durch eine vollständige Liberalisierung der Bildungsdienstleistungen im Rahmen der GATS-Verhandlungen würde letztlich die staatliche Verantwortung für das Bildungswesen in Frage gestellt. Staatliche Subventionen müssten allen Anbietern von Bildungsprogrammen zugestanden oder allen vorenthalten werden. Da entsprechend den GATS-Bestimmungen die Anzahl der Anbieter einer Dienstleistung auf dem Markt
    durch die Nationalstaaten nicht begrenzt werden darf, könnten die staatlichen Subventionen den Mittelbedarf der einzelnen Bildungseinrichtung folglich nur noch unzureichend decken. Die fehlenden Mittel zur Kostendeckung müssten die Bildungseinrichtungen selbst akquirieren.
  • Als Konsequenz dieser Liberalisierung würden die Bildungseinrichtungen nicht mehr in erster Linie über staatliche Subventionen finanziert, sondern über die als KonsumentInnen betrachteten Studierenden, die ihr Studium über Gebühren selbst finanzieren müssten. Als weitere Konsequenz ist auch ein Anstieg des Drucks auf den Flächentarifvertrag für Hochschullehrende denkbar. Diese Entwicklungen würden die Zugangsmöglichkeiten von sozial benachteiligten Mitgliedern der Gesellschaft und die Qualität von Bildungsangeboten verschlechtern.

Bündnis 90/Die Grünen sehen dagegen gerade die Gewährleistung eines öffentlichen und für alle zugänglichen Bildungswesens als wichtige staatliche Aufgabe an. Einigungen über die Ausgestaltung der Internationalisierung der Hochschulsysteme, wie beispielsweise zur Vergleichbarkeit von Studiengängen, zu einheitlichen Regelungen im Bereich der Anerkennung sowie einheitlichen Qualitätsstandards, lassen sich auf internationaler Ebene eher durch
Kooperation als durch die Marktlogik des GATS gestalten. Wir sind für einen fairen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, aber gegen eine Kommerzialisierung der Bildungssysteme zu Lasten der Lernenden.

Aus diesen Gründen stehen wir der Betrachtung von Bildung als Dienstleistung im Rahmen des GATS kritisch gegenüber und lehnen jede weitere auf dieser Idee beruhende Liberalisierung von Bildungssystemen ab.

Die 1995 durch die Europäische Kommission eingegangenen umfangreichen Liberalisierungsverpflichtungen im Bildungsbereich, die übrigens nicht zurückgenommen werden können, werden bereits jetzt im privaten Sektor angewendet. Sollte es im Rahmen der Verhandlungen zur Aufgabe der Beschränkungen der GATS-Bestimmungen auf den privat finanzierten Hochschulbereich kommen, hätte das gravierende Auswirkungen auf das staatliche
Finanzierungsmodell in Europa, auf die Hochschuleinrichtungen und auf die Studierenden. Die Folge wären die Einführung hoher Studiengebühren, das Entstehen teurer Elitehochschulen für Privilegierte und Massenhochschulen für den Rest. Der Zugang zur Hochschule würde dann durch die individuelle Finanzkraft statt durch intellektuelle Fähigkeiten geregelt.

Im Rahmen der laufenden Verhandlungen zum GATS sehen wir daher Folgendes als notwendig an:

  1. Die Europäische Kommission muss jegliche Forderungen nach einer weiteren Liberalisierung der europäischen Bildungssysteme abweisen und darf auch keine Liberalisierungsforderungen im Bildungsbereich gegenüber anderen Ländern stellen.
  2. Die Verhandlungen müssen transparent und unter Einbeziehung der Interessenvertretungen innerhalb der einzelnen Bereiche erfolgen.
  3. Mit der Verhandlung der einzelnen Bereiche und mit eventuellen Schlichtungsprozessen müssen die internationalen Institutionen betraut werden, die für diesen Bereich das offizielle Mandat und die inhaltliche Kapazität zur Problemlösung aus der Perspektive des öffentlichen Interesses haben. Für den Bildungsbereich ist diese Institution die UNESCO. Deshalb unterstützen wir den Abschluss einer UNESCO-Konvention zum Erhalt der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. 

8. Zusammenfassung

Bündnis 90/Die Grünen fordern im Rahmen der Internationalisierung der Bildungssysteme eine Erleichterung der Mobilität von Lehrenden, Lernenden und Forschenden, die Erleichterung und erhöhte Transparenz bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen und Studienleistungen sowie die Erleichterung und Öffnung des Zugangs zu Bildung. Eine hohe Mobilität muss unabhängig von sozialer Herkunft und finanziellen Möglichkeiten für alle möglich sein. Ferner müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem das Aufenthalts- und Arbeitsrecht,
deutlich liberalisiert werden.

Bündnis 90/Die Grünen begrüßen den „Bologna-Prozess“ als Gestaltungsrahmen zur Erreichung dieser Ziele und werden ihn konstruktiv und kritisch begleiten. Hierfür ist es unabdingbar, dass dieser Prozess nicht hinter verschlossen Türen stattfindet. Wir fordern mehr Transparenz bei den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. Das heißt, es müssen VertreterInnen aller Statusgruppen der Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftsorganisationen, VertreterInnen der Arbeitgeber und Gewerkschaften an diesen Prozessen aktiv beteiligt werden.

Einer Kommerzialisierung von Bildung stehen wir kritisch gegenüber und lehnen deshalb weitere Liberalisierungsverpflichtungen im Rahmen der WTO/GATS-Verhandlungen ab.

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