Grüne Eckpunkte: Mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr Bildungsengagement durch eine veränderte Bildungsfinanzierung und höhere Leistungstransparenz im Bildungswesen

Beschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschafts-, Hochschul- und Technologiepolitik vom 1.02.2002

In der modernen Wissensgesellschaft sind Bildung, Ausbildung und Weiterbildung von noch größerer Bedeutung als früher. Bildung erweitert die Spielräume für die individuelle Lebensgestaltung, stärkt die Demokratie, ist unerlässlich für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft und für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Deshalb wollen Bündnis 90/Die Grünen die Bildungs- und Qualifikationswege attraktiv, qualitätsorientiert und frei zugänglich gestalten. Um dies zu erreichen, brauchen wir eine Reform der Bildungsfinanzierung und eine neue Leistungstransparenz im Bildungswesen, die eine neue Balance zwischen individueller Eigenverantwortung und betrieblicher sowie staatlicher Förderung bzw. Unterstützung ermöglicht. Wir werden uns deshalb für

          einen höheren Stellenwert der Bildung in den öffentlichen Ausgaben

          regelmäßige Evaluierungen und Leistungstransparenz der Bildungseinrichtungen

          die Verbesserung und den Ausbau der Bildungsangebote im Vorschul- und Grundschulbereich

          die Ausweitung berufsbezogener Studienangebote

          eine elternunabhängige Ausbildungsförderung

          die Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen für die Weiterbildung

einsetzen.

1. Die Nutzung von Bildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten muss ausgeweitet, der Anteil der HochschulabsolventInnen erhöht, die Zunahme von ausländischen Studierenden und MigrantInnen im Bildungswesen Rechnung getragen werden. Das erfordert einen höheren Stellenwert der Bildung in den öffentlichen Ausgaben.

In der Wissensgesellschaft wird die Bedeutung von Lernen und insbesondere von Weiterlernen nach einem ersten berufsqualifizierenden Abschluss stärker zunehmen. Die wachsende gesellschaftliche, kulturelle und technologische Dynamik wird die Wünsche und auch die Notwendigkeiten zur Nutzung von berufsbezogenen und anderen Weiterbildungsangeboten erhöhen. Im Bereich der Hochschulbildung erleichtert die Einführung differenzierter Studienangebote, nach einer ersten Berufsphase durch eine weitere Studienphase – entweder als konventionelles Präsenzstudium oder als e-Learning-Studium – eine ergänzende Qualifikation zu erreichen. Insgesamt werden Bildungsphasen einen größeren Zeitraum im Leben der Einzelnen einnehmen als in der Vergangenheit. Diese Entwicklung muss im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft ebenso wie zur Erhaltung der aktiven und bewussten Teilhabe der BürgerInnen an der Gesellschaft politisch aktiv unterstützt werden.

Es ist zu erwarten, dass sich das Verhältnis zwischen der Zahl der AbsolventInnen im beruflichen Bildungswesen einerseits und im Hochschulbereich andererseits zugunsten des Hochschulbereichs – und hier insbesondere zugunsten berufsorientierter Studiengänge, wie sie derzeit insbesondere an den Fachhochschulen angeboten werden – verschiebt. Dass die Quote der HochschulabsolventInnen in Deutschland zu niedrig ist, zeigen nicht nur OECD-Erhebungen, sondern auch viele Nachfragen aus der Wirtschaft wie auch von Studieninteressenten nach zusätzlichen, neue Arbeitsfelder erschließende berufsbezogenen Studienangeboten. Wir sehen beispielsweise in den Gesundheitsberufen, im Rechtswesen, in Überschneidungsbereichen von Wirtschafts- und Technikdisziplinen und in der vorschulischen Erziehung Berufsfelder, in denen berufsbezogene Studiengänge verstärkt etabliert werden sollten.

Auch die angestrebte Internationalisierung der Hochschulen und die in diesem Zusammenhang gewünschte Zunahme der Zahl ausländischer Studierender sowie die notwendige Integration von MigrantInnen bringen neue Aufgaben und Anforderungen für das Bildungswesen mit sich.

Diese absehbar steigenden Anforderungen an das Bildungswesen zeigen: An der Bildung dürfen wir nicht sparen, wenn wir unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, unseren kulturellen Reichtum und die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens nicht gefährden wollen. Bündnis 90/Die Grünen wenden sich deshalb nachdrücklich gegen kurzschlüssige Vorstellungen von FinanzministerInnen, die in dem sich abzeichnenden Bevölkerungsrückgang in Deutschland vorwiegend eine Möglichkeit zu erheblichen Einsparungen im Bildungsbereich sehen. Auch wenn wir die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung – das Motiv hinter diesen finanzpolitischen Überlegungen – im Grundsatz unterstützen, muss die wachsende Bedeutung von Bildung, Ausbildung und Weiterbildung durch eine entsprechende Prioritätensetzung in den öffentlichen Haushalten sowohl beim Bund als auch in den Ländern und Kommunen berücksichtigt werden.

2. Die Leistungen und die Effizienz im Bildungswesen müssen durch nichtmonetäre sowie monetäre Anreizsysteme verbessert werden, die jedoch  soziale Selektion vermeiden müssen. Der wichtigste Ansatz zur Effizienzsteigerung ist eine erweiterte Handlungsautonomie der Bildungseinrichtungen in Verbindung mit erhöhter Leistungstransparenz und Qualitätssicherung.

Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die den Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellten Mittel effektiver und effizienter als in der Vergangenheit eingesetzt werden müssen. Als vorrangigen Weg zur Erreichung dieses Ziels betrachten wir die Ausweitung der Handlungsautonomie der Einrichtungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Leistungstransparenz und einer Intensivierung der Qualitätssicherung.

Im Bereich der Qualitätssicherung hat das Bildungswesen in Deutschland einen Rückstand, der zügig aufgeholt werden muss. Qualitätsmanagement und Evaluationen unter Beteiligung externer ExpertInnen müssen in Bildungseinrichtungen zur Regel werden. In diesem Zusammenhang sollen künftig auch regelmäßig Leistungsdaten wie z.B. in den Hochschulen die mittlere Studiendauer in den Studiengängen erhoben und veröffentlicht werden. Durch die Einrichtung einer Stiftung „Bildungstest“ wollen wir dafür sorgen, dass die für BildungsnachfragerInnen wichtigen Informationen über bestehende Bildungseinrichtungen übersichtlich aufbereitet und zugänglich gemacht werden. Von diesen Maßnahmen erwarten wir zugleich entscheidende Impulse für notwendige Bildungsreformen mit dem Ziel, ein differenziertes Bildungsangebot, die Konzentration der Bildungsprozesse auf die zentralen Qualifikationserfordernisse, die Verringerung der Misserfolgsrate und eine intensivierte Betreuung und Beratung der BildungsnutzerInnen zu erreichen.

Nachfrageorientierte und leistungsbezogene finanzielle Steuerungsinstrumente wie z.B. eine nachfragebezogene Budgetbemessung sollen ebenfalls als Möglichkeiten zur Leistungssteigerung im Bildungswesen geprüft bzw. weiterentwickelt werden. Sie können das Engagement der Bildungseinrichtungen sowie deren NutzerInnen für eine verantwortungsvolle Nutzung der Bildungsressourcen erhöhen.

Wir stellen uns allerdings undifferenzierten und oft nur ideologisch motivierten Vorstellungen entgegen, nach denen die bestehenden Mängel und Defizite des deutschen Schul- und Hochschulwesens primär durch eine – am Vorbild der USA orientierte – verstärkte Privatisierung und die individuelle Mitfinanzierung der Ausbildungskosten durch die BildungsnehmerInnen erreicht werden kann. Deshalb werden wir bei der Prüfung und ggf. Einführung von monetären Steuerungsinstrumenten darauf achten, dass sie keine unerwünschten sozialen, bildungsstrukturellen, qualitätsbezogenen oder regionalpolitischen Effekte erzeugen. Finanzielle Steuerungsstrukturen müssen z.B. auch berücksichtigen, dass Schulen in sozialen Brennpunkten unter schwierigeren Rahmenbedingungen arbeiten als Schulen mit Einzugsbereichen aus der Ober- und Mittelschicht und dass Hochschulen in finanz- und wirtschaftsstarken Großstädten über Standortvorteile gegenüber Hochschulen in kleinere Städten mit ländlicher Umgebung verfügen. Bei einer durch individuenbezogene finanzielle Steuerungsinstrumente herbeigeführten Verknappung des kostenfreien Zugangs zu Hochschulen sehen wir Gefahren einer Verringerung der Bildungsnachfrage und einer – damit verbundenen – verschärften sozialen Selektion. Finanzielle Steuerungsmechanismen, die soziale Selektion fördern, lehnen wir nachdrücklich ab.

3. Bildungspolitik ist Sozialpolitik. Wir wollen die soziale Gerechtigkeit insbesondere durch Qualitäts- und Angebotsverbesserungen sowie Beitragsverringerungen bei den Vorschuleinrichtungen, durch eine generelle Kostenfreiheit der beruflichen Erstausbildung und durch eine elternunabhängige Ausbildungsförderung erhöhen.

Im Bildungswesen werden entscheidende Weichen für berufliche und außerberufliche Lebenschancen gestellt. Wir wollen, dass jede und jeder Lernende faire Chancen auf die größtmögliche Entfaltung ihres/seines Bildungspotenzials erhält. Nur wenn das Bildungswesen sozial gerecht ausgestaltet wird, haben Toleranz, ein solidarisches Zusammenleben und Demokratie in unserer Gesellschaft eine Chance.

Bündnis 90/Die Grünen treten dafür ein, dass die vorschulischen Bildungseinrichtungen qualitativ verbessert und quantitativ ausgebaut werden. Im Vorschulbereich werden entscheidende Grundlagen für die spätere schulische Leistungsfähigkeit und -motivation gelegt. Deshalb ist es wichtig, dass durch Kindergärten bzw. Kindertagesstätten die sozialen Unterschiede nicht verstärkt, sondern möglichst kompensiert werden. Durch gezielte Maßnahmen können Kindergärten auch wesentlich dazu beitragen, dass Kinder aus MigrantInnenfamilien gesellschaftlich integriert werden und die anschließenden Qualifikationsphasen erfolgreich durchlaufen. Diesen Ansprüchen werden die vorschulischen Einrichtungen gegenwärtig nicht gerecht. Die OECD-Studien zur Bildungsfinanzierung verdeutlichen, dass in Deutschland die vorschulische Bildung sowie die Grundschulbildung im internationalen Vergleich unterfinanziert sind. Für den Vorschulbereich spiegelt sich in diesen Zahlen das vergleichsweise niedrige Qualifikationsniveau der in diesen Einrichtungen arbeitenden PädagogInnen und sowie die geringe Zahl von Tageseinrichtungen (vor allem in den alten Bundesländern) wider. Deshalb sind in diesem Bereich wesentliche Angebots- und Qualitätsverbesserungen notwendig. Zugleich sollen die durch Vorschuleinrichtungen entstehenden finanziellen Belastung für Familien bzw. Alleinerziehenden verringert wird, damit möglichst auch jene Kinder vorschulische Einrichtungen benutzen, deren Eltern bisher aus finanziellen Gründen dieses Angebot nicht wahrnehmen. Darüber hinaus trägt ein solcher Schritt zu der dringend gebotenen finanziellen Entlastung von jungen Familien bei. Daraus ergibt sich insgesamt ein langfristig deutlich erhöhter Mittelbedarf für den Vorschulbereich. Für die damit verbundenen finanziellen Mehrbelastungen müssen die Kommunen einen Ausgleich erhalten.

Es ist sozial nicht vertretbar, dass eine Reihe nichtakademischer Berufe gegenwärtig nur im Rahmen kostenpflichtiger Ausbildungsgänge erlernt werden können. Künftig sollen auch für diese Berufe – genauso wie bei der Ausbildung in der dualen Berufsbildung und der Hochschulausbildung – Qualifikationswege angeboten werden, die für die BildungsteilnehmerInnen kostenfrei sind.

Die rot-grüne Bundesregierung hat die Mittel für die Ausbildungsfinanzierung (BAföG) deutlich erhöht und damit einen ersten Schritt gegen die Demontage dieses Förderinstruments durch die Vorgängerregierungen unternommen. Der jetzt erreichte Stand ist jedoch immer noch unbefriedigend. Wir halten an dem Ziel einer grundsätzlichen Reform der Ausbildungsförderung fest und treten für eine sozial gerechte, elternunabhängige Finanzierung des Lebensunterhalts von lernenden Erwachsenen ein. Wer nach dem Abschluss seiner Ausbildung ein entsprechendes Einkommen erhält, soll im Rahmen eines fairen Lastenausgleichs zur Refinanzierung seiner Förderung beitragen.

4. Das finanzielle Engagement von Staat, Wirtschaft und BildungsnehmerInnen muss im Bildungswesen neu justiert werden.

Das öffentliche Bewusstsein in Deutschland ist – ungeachtet vereinzelter Forderungen nach ergänzenden Studiengebühren – weithin geprägt von der Erwartung, dass ein ausreichendes Schul- und Hochschulangebot aus öffentlichen Mittel finanziert wird. Zugleich gibt es parteiübergreifende Bestrebungen zur Senkung der Steuerlast, aber auch einen Konsens darüber, dass die Bedeutung und der Anforderungen an das Bildungswesen in der Wissensgesellschaft zunehmen. Angesichts dieser in ihren Konsequenzen partiell widersprüchlicher Erwartungshaltungen besteht die Gefahr, dass die durch OECD-Studien mehrfach nachgewiesene teilweise erhebliche Unterfinanzierung des Bildungswesens mittelfristig nicht nur fortgeführt, sondern sogar verschärft wird. Die angestrebten Effizienzsteigerungen werden diese Problematik nur geringfügig entschärfen können.

Wir halten es in Anbetracht dessen für notwendig,

          dass die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens im Grundsatz nicht etwa verringert, sondern schrittweise erhöht wird, um die Qualität des Bildungsangebots zu verbessern;

          dass erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um das öffentliche Bewusstsein für die hohe Bedeutung eines gut ausgestatteten und leistungsfähigen, ohne soziale Schranken zugänglichen Bildungswesen zu sensibilisieren und die Bereitschaft zur privaten, mäzenatischen Unterstützung von Bildungseinrichtungen – in Ergänzung zur öffentlichen Grundfinanzierung – in Deutschland wesentlich zu erhöhen. Diese Bereitschaft ist zwar bereits gewachsen, jedoch bleiben die hierdurch aufgebrachten Mittel noch erheblich hinter vergleichbaren Finanzierungsbeiträgen in den USA zurück. Jüngere Public-Private-Partnership-Initiativen (z.B. D 21) lassen hoffen, dass die Wirtschaft ebenso wie private StifterInnen zunehmend bereit sind, aus Verantwortung um das Wohlergehen der heranwachsenden Generation hier einen eigenen finanziellen Beitrag zu leisten.

5. Lebensbegleitendes Lernen nach der Berufsausbildung erfordert neue, nachfragestärkende und sozial gerechte Finanzierungsstrukturen.

Weil lebensbegleitendes Lernen in der Wissensgesellschaft immer wichtiger wird, müssen die Weiterbildungsaufwendungen gesteigert werden. Sowohl zur berufsbezogenen Qualifikation – zur Erhaltung, Aktualisierung, Verbesserung oder Ergänzung der Kompetenz im ausgeübten Beruf, zur Vorbereitung eines Berufseinstiegs in einem neuen beruflichen Feld, zum Wiedereinstieg in eine Berufstätigkeit nach Arbeitslosigkeit oder Familienpause – als auch zur allgemeinen Kompetenzsteigerung im Interesse einer aktiven und befriedigenden Mitwirkung in der dynamischen und komplexer werdenden Welt spielt Weiterbildung eine zunehmende Rolle. Bisher partizipieren vorwiegend hoch qualifizierte Berufstätige an beruflichen Weiterbildungsangeboten. Berufstätige auf einem mittleren und niedrigen Qualifikationsniveau werden noch unzureichend einbezogen. Bildungsmaßnahmen der Arbeitsämter sind an teilweise unsinnige Voraussetzungen geknüpft und geben den Nutzern unzureichende Wahlmöglichkeiten. Bei nicht berufstätigen Personen ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit und Chancen von Weiterbildung noch entwicklungsbedürftig und auch das Angebot in vielen Bereichen nicht attraktiv genug. Um die Weiterbildungsbeteiligung zu erhöhen, müssen vielfältige Finanzierungsquellen mobilisiert werden. Wir befürworten, dass Weiterbildungsmöglichkeiten in Tarifverträgen verankert und dabei die Interessen der ArbeitnehmerInnen angemessen berücksichtigt werden. Die öffentliche Hand als wichtige ArbeitgeberIn sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Wir werden prüfen, ob weitere neue Finanzierungsinstrumente und evtl. auch die Einführung einer Weiterbildungsversicherung als einer zusätzlichen Sozialversicherung notwendig und geeignet sind, um die dringend erforderliche Stimulierung und finanzielle Absicherung von Weiterbildung zu bewirken.

6. Der Föderalismus muss in der Bildungspolitik zukunftsfähig werden.

Wir wollen uns in die Debatte über eine Reform des Föderalismus einmischen. Dabei wollen wir prüfen, ob und in welcher Form der „Kulturföderalismus“ für eine zukunftsorientierte Bildungspolitik in der Wissensgesellschaft geeignet ist. So ist zu fragen, ob das gegenwärtige System der Mischfinanzierung geeignet ist, Unzulänglichkeiten auszugleichen, oder ob es sie eher verstärkt. Unser Augenmerk müssen wir auch darauf richten, dass einige Länder überdurchschnittlich viele Studierende aus anderen Bundesländern aufnehmen und die dafür notwendigen Einrichtungen zur Verfügung stellen, während andere ein „Wanderungsdefizit“ aufweisen. 

Verwandte Artikel