Vorbemerkung: Im Zuge der Diskussion um das Europawahlprogramm 2014 sahen wir uns als BAG Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik damit konfrontiert, dass als eines der eingängigen Beispiele für milliardenschwere Fehlinvestitionen der Europäischen Union ein internationales Forschungsgroßprojekt herangezogen wurde: der Fusionsreaktor ITER, der derzeit im südfranzösischen Cadarache geplant und gebaut wird. Die BAG hat sich daraufhin in mehreren Sitzungen mit den Hintergründen des Forschungsprojekts ITER und der Erforschung von Kernfusion befasst. Wir sehen die Notwendigkeit, uns in die innerparteiliche Positionsbildung einzubringen, und wollen das mit diesem Papier tun, das die wissenschafts- und technologiepolitische Perspektive auf ITER als Bereicherung für diese Positionsbildung darlegen soll.
Ziel: unerschöpfliche Energie für alle, oder jedenfalls für alle ITER-Beteiligten Fusionsenergie, „das Feuer der Sonne“, ist keine rein technische Frage – ähnlich wie einstmals Energie aus Kernspaltung ist Fusionsenergie nicht nur eine zu entwickelnde und dann zu erprobende Anwendung physikalischer Erkenntnisse, sondern auch ein geradezu mit Heilserwartungen aufgeladenes Konzept. Unabhängig davon, welche technologischen und sozialen Konsequenzen eine Erfüllung des Versprechens von unbegrenzt zur Verfügung stehender Energie hätte, übt allein die als fast schon in Armeslänge erreichbar beschriebene Fusion eine Anziehungskraft aus, die das Projekt ITER lange vor fundierter Kritik geschützt hat. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass am Beginn des Projektes eine 1986 noch revolutionäre Idee stand: Eine wissenschaftlich faszinierende Idee sollte ergründet und ihre technische Umsetzung gemeistert werden, und das in einem Konsortium, das die bis dato geltenden Blockkonfrontationslinien überschreiten sollte und in dem sowohl die USA als auch die damalige Sowjetunion als auch z. B. Japan und die Europäische Union Partner sein sollten.
Die Verträge binden die Partner bewusst sehr fest aneinander, so dass ein einseitiges Ausscheren den Verlust aller bisherigen Investitionen und des privilegierten Zuganges zu gewonnenen Erkenntnissen, aber auch Ausbildungsmöglichkeiten, mit sich bringen würde. In dieser Hinsicht ist das Projekt ITER zumindest in seinem Anfang (möglicherweise auch heute noch, unter sich verändernden geopolitischen Bedingungen und neu formierten Konfrontationslinien) auch ein Beispiel für Wissenschaftsdiplomatie.
ITER und Fusionskraftwerke – und die Energiewende?
Befürworter*innen einer Erforschung der Kernfusion aus energiepolitischen Gründen malen seit langem ein Bild von unerschöpflicher, ‚sauberer‘ Energie. Folgerichtig ressortiert die Zuständigkeit für das Großforschungsprojekt ITER in der EU auch bei EURATOM. In den vergangenen Jahren ist ein weiterer Argumentationsstrang hinzugekommen: die Energiewende. Auch beim Klimagipfel in Kopenhagen 2009 und zu anderen Gelegenheiten hat die Europäische Union die Erforschung der Kernfusion vor allem als Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel vorgestellt, und auch das neue Programm EUROfusion (quasi als forschungsfördernde Untereinheit von EURATOM) wird so erklärt. Diese Argumention pro ITER ist aus unserer Sicht nicht schlüssig, und auch technologiepolitisch nicht zu Ende gedacht. Da ist zum einen eine Frage der Struktur künftiger Energienetze: Die Idee extrem zentralistischer Energieerzeugung als Grundlastelement widerspricht der Dezentralisierung, die als Folge des Ausbaus regenerativer Energien derzeit Stück für Stück umgesetzt wird. Der Umbau der Netze und der Steuerung derselben zu einem europaweiten integrierten Stromnetz, das primär nicht-kontinuierlich erzeugten Strom aus regenerativen Quellen verarbeiten kann, ist mit der Idee einer Stromerzeugung in den Größenordnungen, wie sie im Bereich Fusion angestrebt werden, wahrscheinlich inkompatibel. Hier muss entschieden werden – und wir Grünen haben uns entschieden: für regenerative Energie, für dezentrale Erzeugung, für vielfältige Eigentums- und Vertriebsstrukturen in der Stromerzeugung. Andererseits kommt eine gesellschaftlich-politische Frage hinzu: Welche Wirkung hätten zentralistische Strukturen der Energieerzeugung, deren Machtstellung auf dem Markt über jede gesellschaftliche und politische Steuerung hinaus wächst, allein schon der Größe wegen? „Too big to fail“ ist nicht nur im Bereich der Finanzmärkte ein hochproblematisches Konzept. Fragen von Abhängigkeit und Energiesicherheit sind – nicht nur aus rein akademischer Neugierde, sondern auch zur Folgenabschätzung und damit gesellschaftlichen Bewertung eines möglichen Einsatzes einer solchen Technologie – auch für ein Energieerzeugungsmodell mit einigen wenigen Fusionskraftwerken durchzudeklinieren.
Zu guter Letzt passen die Zeitabläufe nicht zusammen: Bis selbst bei optimistischen Annahmen, Energieerzeugung aus Fusion zur Verfügung steht (oder stünde), muss die Energiewende längst weitestgehend erfolgt sein. ITER selbst ist ein Großforschungsprojekt, das die Machbarkeit einer stabilen, einen Energieüberschuss produzierenden Fusion entwickeln und aufzeigen soll. Selbst der Prototyp eines Fusionskraftwerks stünde nicht vor Mitte des Jahrhunderts zur Verfügung. Hoffnungen in die Fusion zu setzen darf daher nicht dazu führen, grundsätzlich die Erforschung alternativer Fragestellungen und Technologien im Energiebereich zu vernachlässigen. Die EU-Kommission hat in der Vergangenheit bereits versucht, Forschungsmittel, die zum Beispiel in die Erforschung von Ressourceneffizienz oder CO2-arme Wirtschaft („Bewahrung und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen“) gehen sollten, zugunsten des ITER umzuwidmen, um die eklatanten Kostensteigerungen irgendwie aufzufangen. Aus wissenschaftspolitischer Sicht halten wir dies für schädlich.
Grundlagenforschung in der Fusionsforschung und am Projekt ITER
Allerdings ist ITER mehr als ‚nur‘ Proof of Concept-Phase für mögliche künftige Fusionskraftwerke. Das Projekt so zu betrachten, würde ebenfalls erheblich zu kurz greifen. Zwar verzögert sich das ITER-Projekt ständig, auch heißt es seit über fünfzig Jahren, in etwa dreißig Jahren seien Fusionskraftwerke baubar und Fusionsenergie handelbar. Zu den Gründen hierfür gehört aber, dass allein bereits die technische Realisierung an die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse stößt. Hier ist Fusionsforschung Grundlagenforschung. Es darf bezweifelt werden, dass ohne Fusionsforschung der vierte Aggregatzustand von Materie, das Plasma, so ausgiebig erforscht worden wäre. Sehr hohe Drücke und Temperaturen, Hochfrequenztechnik, materialwissenschaftliche Fragestellungen im Hochleistungsbereich, deren Ergebnisse anderen Grundlagenbereichen aber auch angewandten Bereichen bis hin zum Turbinenbau im Bereich erneuerbarer Energien zu Gute kommen können, gehören zu den untersuchten Fragestellungen. Und grundsätzlich gilt auch beim ITER wie bei anderen Projekten der Grundlagenforschung: Es lässt sich vorher nicht genau vorhersagen, was dabei herauskommen wird – erst recht nicht, welche Fragestellungen, Lösungen und Nebenerkenntnisse sich im Verlauf ergeben, und wo diese wiederum Anwendung finden werden.
Lessons learned – and questions to be asked?
Zu den seit Anbeginn des Projektes der Grundlagenforschung augenfälligen Herausforderungen, die erheblich zur Kostenexplosion und Überschreitung des Zeitplanes bis hierher geführt haben, gehören neben technischen (vieles wird im ITER erstmalig oder erstmals in dieser Größe gebaut und ausprobiert) vor allem organisatorische. Die Projektpartner leisten nur den geringsten Anteil ihrer Beiträge tatsächlich finanziell – etwa 10% werden direkt an die Zentrale überwiesen. Der Rest wird gefertigt und geliefert (bzw. vor Ort erstellt), wobei in erheblichem Ausmaß auch nationale industriepolitische Interessen im Vordergrund stehen. Aufgrund des experimentellen Charakters des Projektes sind zudem Schnittstellen und Verfahren oftmals nicht definiert, sondern werden im Prozess zwischen den sieben Partnern (bzw. insgesamt 35 beteiligten Nationen) und der Projektzentrale entwickelt. Das dauert – und ist als dauerhafte Herausforderung von vornherein im Projekt angelegt. Um sie erfolgreich zu bewältigen, bedarf es leistungsfähiger und den Eigenheiten eines experimentellen Großforschungsprojektes angemessener Managementstrukturen. Der letzte „Management Assessment Report“ (2013) stellt der Projektsteuerung allerdings ein vernichtendes Zeugnis aus, angefangen von der mangelnden Projektsteuerungserfahrung relevanter Handelnder über das Fehlen einer konstruktiven Umgehensweise mit erkannten Fehlern und Herausforderungen, einer mangelnden nuclear safety culture, bis zu einer als kopflastig und ineffizient empfundenen Verwaltungsstruktur, die zudem schlecht bis nicht kommuniziert. Auch der europäische Rechnungshof kritisiert seit langem gravierende Mängel im Kontroll- und Finanzinformationssystem. Hinzu kommt die aus unserer Sicht völlig berechtigte Kritik aus den Parlamenten, die nur unzureichend über Kosten, Probleme und deren Ursachen und Lösungsansätze informiert werden.
Auch künftig wird es wissenschaftliche Fragestellungen geben, deren Untersuchung für einen Staat allein zu groß und zu teuer sind – auch der Large Hadron Collider (LHC), die Internationale Raumstation (ISS) oder die derzeit in Planung befindlichen Großteleskope sind übernational angelegt. Eine kritische Analyse der Projektsteuerungsstruktur des ITER und die Erarbeitung zukünftiger, sinnvoller Organisationsmodelle für Großforschungseinrichtungen gehört zu den weiteren Konsequenzen, die auch im wissenschaftspolitischen Interesse aus dem Steuerungsversagen und der Kostenexplosion bei ITER zu ziehen sind. Sowohl der beschlossenen ‚Kostendeckel‘ (von Seiten der Europäischen Union) als auch die vereinbarte Revision des Zeitplanes durch die Projektpartner im Juni 2015 sind notwendige Konsequenzen. Auch andere Partner ziehen aus dem eklatanten Steuerungsversagen Konsequenzen, und knüpfen z. B. Finanzierungsanteile an die Umsetzungen der Empfehlungen des Management Assessment Report.
Aus Sicht der BAG Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik ist der ITER ein internationales Grundlagenforschungsprojekt, dass seine Berechtigung schon aus der aus menschlicher Neugier gestellten Frage erhält, wie das Sonnenfeuer eigentlich funktioniert. Und wie bei den meisten Forschungsfragen in der Grundlagenforschung gibt es auch hier Synergieeffekte mit anderen Forschungsbereichen, wie z.B. der Hochleistungselektronik. Doch es ist notwendig, dass endlich wissenschaftsadäquate Kommunikations- und effiziente Managementstrukturen etabliert werden, die weitere Verzögerungen und Kostensteigerungen zu minimieren. Ferner müssen die mit öffentlichen Mitteln finanzierten Erkenntnisse allgemein zur Verfügung gestellt werden.
Schlussfolgerungen aus Sicht der BAG Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik:
- Stabile Energieerzeugung durch Kernfusion ist noch lange Zukunftsmusik – selbst bei optimistischsten Annahmen. Fusionskraftwerke, sollten sie machbar sein, sind auch deshalb nicht als relevanter Pfeiler der Energiewende einplanbar.
- Kernfusionsforschung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt Grundlagenforschung und kein energie- und industriepolitischen Projekt. Nichtsdestotrotz sind wir der Auffassung, dass anwendungsorientierte Forschung im Bereich der erneuerbaren Energien nicht gegen die Grundlagenforschung ausgespielt werden darf, und fordern daher eine Erhöhung der EU-Haushaltsmittel für die Erforschung der erneuerbaren Energien.
- Die Organisationsstruktur des Projektes ITER ist wesentlich dafür verantwortlich, dass sich das Projekt immer wieder deutlich verzögert und exorbitante Kostensteigerungen auftreten. Deswegen muss aus einer kritischen Analyse dieser Strukturen auch abgeleitet werden, wie künftige internationale Großforschungsprojekte strukturell und vertraglich angelegt sein müssen, um Folgen wie beim ITER zu vermeiden.
- Standards der Kosten- und Verfahrenstransparenz und der Veröffentlichung der (auch schon im Prozess) gewonnenen Erkenntnisse sind auch beim Projekt ITER unbedingt einzuhalten. Sollten derzeit Vertragsbestimmung dem entgegenstehen, muss die EU auf eine Veränderung dieser dringen.
Mehrheitlich beschlossen von der BAG WHT am 12.06.2015 in Berlin.
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