Für einen echten Bildungsaufbruch

Anhang: Beschluss Parteirat im Wortlaut
Beschluss des Parteirats zur Bildungspolitik:
Für einen echten Aufbruch

Die Lebenschancen jedes Menschen hängen heute aufgrund der Anforderungen im Alltag und in der Arbeitswelt mehr denn je von guter Bildung ab.

Bildung vermittelt soziale und kognitive Kompetenzen, ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und Teil der Erziehung zur Demokratie.
Bildung ist ein guter Schutz vor Armut und zugleich eine Frage des gesellschaftlichen Wohlstandes, schließlich ist sie eine der Voraussetzungen für Innovation und internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Der Zugang zu guter Bildung, die Förderung aller Kinder und Jugendlichen und bessere Bildungschancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien sind zu einer zentralen Gerechtigkeitsfrage geworden, die auch die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft betrifft.

Blockierte Gesellschaft – soziale Herkunft bestimmt Bildungschancen

Vor diesem Hintergrund ist es alarmierend, dass die Bildungschancen der Menschen in Deutschland derart von ihrer sozialen Herkunft abhängen wie in kaum einem anderen OECD-Staat. Daran hat sich trotz des „PISA-Schocks“ im Jahr 2001 bis heute kaum etwas geändert. Nach wie vor gehören ca. 20% der Schülerinnen und Schüler zur Gruppe der so genannten „RisikoschülerInnen“. Diese Jugendlichen verlassen die Schule, ohne über das Minimum an Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben und Mathematik zu verfügen, das für eine erfolgreiche berufliche Ausbildung notwendig ist. Bei gegenwärtig ca. 900.000 Schulabgängerinnen und Schulabgängern bedeutet dieses Ausmaß der Risikogruppe, dass jährlich nicht nur knapp 70.000 die Schule ohne Abschluss verlassen, sondern insgesamt jedes Jahr rund 180.000 junge Menschen nach Ende der Schulpflicht nicht nur wenig, sondern auch das Lernen selbst nicht gelernt haben und deswegen kaum in der Lage sein werden, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Etliche Studien belegen ferner, dass bis zu 50% aller Schulempfehlungen fehlerhaft sind und Kinder aus Arbeiterfamilien selbst bei gleicher Leistung seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten als Kinder aus Akademikerfamilien. Die mangelnde Chancengerechtigkeit setzt sich fort beim Zugang zu den
Hochschulen: Während 83 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien studieren, sind es nur 23 von 100 Arbeiterkindern. Unsere Gesellschaft wird heute von vielen jungen Menschen als blockiert empfunden. Fast die Hälfte aller jungen Menschen aus Migrantenfamilien vermissen eigenen Angaben zufolge faire Bildungschancen. Das alles ist ein Alarmsignal für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

„Bildungsrepublik“ bleibt eine Fata Morgana

Die von der Bundeskanzlerin schon in der vergangenen Legislatur vollmundig angekündigte „Bildungsrepublik“ ist auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben worden. Die bisherigen Bildungsgipfel brachten seit anderthalb Jahren keine Ergebnisse bei den dringend notwendigen Verbesserungen der Struktur und Qualität unseres Bildungssystems, bestmöglicher individueller Förderung und Inklusion. Wenn diese Regierung es ernst meinte mit dem bildungspolitischen Aufbruch, würde sie angesichts knapper Kassen eine klare Priorität auf Investitionen mit einer echten Zukunftsrendite setzen. Stattdessen verteilt schwarz-gelb haushaltspolitisch unverantwortliche Steuergeschenke an Hoteliers und Erben und schränkt den ohnehin schon begrenzten Handlungsspielraum der Länder und Kommunen weiter ein, so dass diese die Umsetzung des ab 2013 geltenden Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige in Frage stellen. Das Geschacher um die konkrete Finanzierung der dringend notwendigen Bildungsausgaben und -reformen, das beim nächsten Bildungsgipfel im Sommer dieses Jahres bloß in eine weitere Runde gehen wird, lässt die bildungspolitische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung gegen Null sinken. Einmal mehr zeigen sich die negativen Konsequenzen des Kooperationsverbots im Bildungsbereich, wodurch sich der Bund mutwillig vom Platz gestellt hat.

Ohne finanzielle Anstrengungen kann ein Bildungsaufbruch nicht gelingen

Unser Bildungssystem ist nicht nur ungerecht, es ist auch unterfinanziert. Jährlich sind etwa 23 Milliarden Euro mehr notwendig, damit die Bildungseinrichtungen zumindest auf dem Niveau des OECD-Durchschnitts finanziert sind. Um die Unterfinanzierung zu überwinden und Spielraum für Bildungsinvestitionen zu schaffen, haben wir Grüne einen Bildungssoli vorgeschlagen, auch muss die Demografiereserve im Bildungssystem verbleiben. Bildung muss angesichts knapper Kassen Priorität haben. Mittel, die in Bildung fließen, sind Investitionen in die Zukunft und müssen auch als solche behandelt werden.

Mit Geld allein ist die Bildungsmisere nicht zu lösen

Wir widersetzen uns zugleich dem Eindruck, dass die Bildungsmisere allein mit mehr Geld zu lösen wäre. Entscheidend sind vielmehr darauf basierende strukturelle und inhaltliche Reformen, an denen wir Grüne schon seit langem arbeiten und in Regierungsverantwortung auch umsetzen.
Auch und gerade bei der Bildungspolitik muss es heißen: auf die Inhalte kommt es an. Doch genau von solchen konkreten Reformen zur Verbesserung der Qualität unserer Bildungseinrichtungen ist von der schwarz-gelben Bundesregierung nichts zu hören. Ein elitäres, bürokratisches und unausgegorenes Stipendienprogramm oder schäbige Rechentricks, damit Pensionen für LehrerInnen und HochschullehrerInnen als Steigerung der Bildungsausgaben verbucht werden, haben nichts zu tun mit einem echten bildungspolitischen Aufbruch, für den wir Grüne uns in den Kommunen, Ländern und im Bund einsetzen.

Struktur und Qualität – zwei Seiten einer Medaille

Grüne Bildungspolitik beschränkt sich nicht auf Strukturreformen, sondern denkt Strukturreform und Qualitätsverbesserung als zwei Seiten einer Medaille. Wir wollen, dass unsere Kinder länger gemeinsam lernen können und jedes Kind entsprechend seiner Fähigkeiten gefördert wird.
Denn nur so können sie auch voneinander profitieren, wird kein Kind zurückgelassen und in seiner Entwicklung behindert. Es reicht auch nicht, die Hauptschule als Schulform abzuschaffen. An den neuen Schulen bedarf es zugleich auch Lehrerinnen und Lehrer mit einer verbesserten
Aus- und Fortbildung für neue Methoden des Lehrens und Formen des Lernens, die in einer entsprechenden Unterrichtsqualität münden. Wie entscheidend das Zusammenwirken von Struktur und Qualität für eine gelingende Bildungsreform ist, zeigen auch die Fehler der Bologna-Reform. Sie ist ein Paradebeispiel, dass bloße Strukturreformen zum Scheitern verurteilt sind, wenn nicht zugleich die Qualität der
Lern- und Lehrbedingungen verbessert und dafür auch die notwendigen Mittel bereitgestellt werden.

Gesellschaftliche Bündnispartner für einen bildungspolitischen Aufbruch

Wir brauchen ein gerechteres und leistungsfähigeres Bildungssystem. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es nicht nur parlamentarischer Mehrheiten, sondern auch gesellschaftlicher Bündnispartner. Dazu gehören mit an vorderster Stelle Schülerinnen, Schüler und Studierende, die mit ihren bundesweiten Bildungsstreiks ein starkes Zeichen gesetzt haben.
Ihre Stimmen müssen beim notwendigen Kurswechsel in der Bildungspolitik ernst genommen werden. Dazu gehören auch Lehrende und Eltern, ebenso Bildungsgewerkschaften, Kirchen, Migrantenorganisationen, Handwerkskammern u.a. Mit ihnen werden wir auf dem Grünen Bildungskongress in Gelsenkirchen über Wege zu neuer und besserer Bildung diskutieren und dabei auch die Frage stellen, wie wir angesichts der drängenden Herausforderungen einen Bildungskonsens erreichen, der Gräben überwindet und Mehrheiten für Reformen schafft. Denn ein breites Bündnis für ein besseres und gerechteres Bildungssystem ist notwendig, um endlich die Ideologisierung der Bildungsdebatte zu überwinden, die auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen wird.

Ein leistungsfähigeres Bildungssystem

Gerechtigkeit im Bildungssystem bedeutet nicht, dass Leistung behindert wird. Das muss eigens betont werden, da in der Bildungsdebatte mitunter vorgebracht wird, das Ziel der Bildungsgerechtigkeit sei gleichbedeutend mit der Absenkung des Lernniveaus. Das ist falsch. Vielmehr geht es darum, durch passende Struktur- und Qualitätsverbesserungen Bedingungen zu schaffen, unter denen alle Talente gefördert und Schülerinnen, Schüler und Studierende ihre Potenziale optimal entwickeln können. Jede und jeder muss auch die realistische Chance erhalten, etwas leisten, sich gemäß den eigenen Fähigkeiten einbringen und durch motivierende Leistungsrückmeldungen weiterentwickeln zu können. Doch genau von diesen Bedingungen ist das selektive deutsche Bildungssystem, das weder gerecht noch leistungsfähig ist, derzeit weit entfernt.

Ein echter Bildungsaufbruch für ein gerechteres und leistungsfähigeres Bildungssystem erfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen:

– Wir brauchen einen Ausbau qualitativ hochwertiger und ganztägiger frühkindlicher Betreuung und Bildung ab dem ersten Lebensjahr. Sie ist einer der wichtigsten Schlüssel für mehr Chancengerechtigkeit. Eine Verschiebung oder Rücknahme des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige ab 2013 lehnen wir ebenso entschieden ab wie das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld, das falsche Anreize setzt.

– In einer guten Schule lernen die Kinder länger gemeinsam. Wir streben eine gemeinsame Schule für alle Kinder bis zum Ende der Sekundarstufe I an. Wir wollen dieses Modell überzeugend vermitteln, statt es „von oben“ zu verordnen. Uns ist bewusst, dass dieses Ziel nicht von heute auf morgen erreicht werden kann. In Hamburg ist es ein wichtiger Schritt, die Primarstufe bis zur sechsten Klasse einzurichten. Die Schule der Zukunft ist gemeinsam mit Eltern und Lehrenden Schritt für Schritt weiterzuentwickeln.

– Wir müssen Schulen in Problembezirken besonders fördern, sowohl finanziell als auch personell. Dadurch muss es gelingen, die Zahl der Risikoschülerinnen und -schüler zu senken. Damit verbessern wird die Zukunftschancen der Kinder, erreichen aber auch zugleich, dass diese Stadtviertel für die Mittelschicht attraktiv bleiben. Denn diese stimmt sonst mit den Füßen ab und verlässt diese Bezirke, sobald ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen.

– Wir fordern eine Reform des vielerorts konzeptionslos und schlecht vorbereitet eingeführten achtjährigen Gymnasiums. Da der gleiche Unterrichtsstoff in weniger Schuljahren abgearbeitet werden muss, entsteht ein immenser psychischer und zeitlicher Druck; kulturelle, musische und sportliche Interessen kommen zu kurz. Die Lehrpläne müssen zur Entlastung der Schülerinnen und Schüler entfrachtet werden.

– Wir wollen einen konsequenten Ausbau von echten Ganztagsschulen. Sie sind besonders geeignet, um eine neue Kultur des Lernens zu etablieren, die Kinder individuell zu fördern und auch außerschulische Elemente einfließen zu lassen. Dabei legen wir auch Wert darauf, dass jedes Kind ein gesundes Mittagessen bekommt, das sich jede und jeder leisten kann.

– Schulen müssen selbständiger agieren können. Sie müssen selbstverantwortlich Bildungsstandards erreichen und über ein eigenes Personalbudget verfügen. Eine selbständige und demokratische Schule lebt
vom Engagement der Schulleitung, Lehrenden, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern. Dieses Engagement wird gerade dann aktiviert, wenn die einzelne Schule und alle Beteiligten mehr Verantwortung erhalten. Dazu gehören zugleich Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und die Schulsozialarbeit, deren Ausbau auch angesichts der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle an Schulen und Internaten dringend geboten ist. Sie müssen innerhalb der jeweiligen Institution eine möglichst unabhängige Position innehaben.

– Wir wollen die Rolle der Kommunen in der Schulpolitik stärken. Den Kommunen liegt nicht nur etwas an der besten Bildung für ihre Kinder und Jugendlichen – viele von ihnen stehen angesichts des demographischen Wandels und sinkender Schülerzahlen auch vor der Herausforderung, den Schulstandort zu bewahren. Die Kommunen sollten die Möglichkeit erhalten, in Absprache mit den örtlichen Schulen über die organisatorische und pädagogische Zusammenführung der weiterführenden Schulen selbst zu entscheiden.

– Deutschland hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Wir fordern eine konsequente Umsetzung der Konvention durch die Realisierung eines inklusiven Bildungssystems, in dem der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung zur Regel wird.

– Das bestehende duale System muss um überbetriebliche Ausbildungsstätten erweitert und so zu einem System „DualPlus“ umgebaut werden. Fast jeder zweite Schulabgänger muss heute mindestens ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz warten. Rund 300.000 junge Menschen stecken in Warteschleifen, deren jährliche Kosten auf drei bis vier Milliarden Euro geschätzt werden und in denen sie kaum neue Qualifikationen erwerben, die ihre Chancen verbessern. Auch angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangels muss die Bundesregierung endlich das berufliche Ausbildungssystem reformieren, damit es unabhängiger von der jeweiligen Konjunkturlage wird.

– Wir fordern ein Erwachsenen-BAföG, um Weiterbildung und lebenslanges Lernen möglich und attraktiv zu machen. Die gestiegenen Anforderungen in der Arbeitswelt und ein Fachkräftemangel in Folge der demographischen Entwicklung erfordern heute eine kontinuierliche Weiterbildung in allen Lebensphasen. Bisher zu wenig teilnehmende Gruppen wie Geringqualifizierte, Alleinerziehende, Teilzeitkräfte und Migrantinnen und Migranten müssen dabei gezielt gefördert werden.

– Länder und Hochschulen müssen die Bologna-Reform verbessern.
Erforderlich sind Korrekturen, die zu einer Entfrachtung der Studienordnungen und einer tatsächlichen Studierbarkeit führen. Jede Absolventin und jeder Absolvent eines Bachelorstudiengangs soll die Möglichkeit haben, einen Masterstudiengang zu studieren. Die Studierenden müssen intensiver an der Weiterentwicklung der Bologna-Reform beteiligt werden.

– Wir brauchen einen Pakt für Studierende, der in den nächsten fünf Jahren 500.000 zusätzliche Studienplätze bereitstellt, dabei die realen Kosten des Studienplatzausbaus und der Bologna-Reform berücksichtigt und den Studienplatzmangel überwindet.

– Die soziale Dimension des Bologna-Prozesses muss gestärkt werden, so dass insbesondere mehr Kinder aus Arbeiterfamilien den Weg an die Hochschule finden. Die Abschaffung von Studiengebühren sowie eine sozial gerechte und leistungsfähige staatliche Studienfinanzierung spielen hierbei eine wichtige Rolle. Das Nationale Stipendienprogramm lehnen wir ab, da es jene nicht erreichen wird, die aus finanziellen Gründen einen Bogen um die Hochschulen machen. Vielmehr müssen die Mittel in eine Erhöhung des BAföG fließen. Mittelfristig brauchen wir ein Zwei-Säulen-Modell der Studienfinanzierung mit einem elternunabhängigen Sockel und einem Bedarfszuschuss als starker sozialer Kompetente.

– Die Rücknahme des Kooperationsverbots im Bildungsbereich muss noch in dieser Legislaturperiode auf die Tagesordnung. Das Kooperationsverbot hat sich längst als eklatanter Fehler der Föderalismusreform I erwiesen.
Ein Bildungsaufbruch ist kaum möglich, wenn der Bund bei der Bildungspolitik nicht wieder stärker ins Spiel kommt und die Länder etwa beim Ausbau echter Ganztagsschulen unterstützt.

Beschluss: Einstimmig

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