Grundlagen für eine produktive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik
Ein Diskussionsanstoß aus der Arbeitsgruppe „Wissenschaft und Politik“ der BAG Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik – Stand Dezember 2013. [Download als PDF]
I. Warum dieses Papier?
Als Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik (BAG WHT) befinden wir uns oft in einer Situation, die auf zwei Arten beschrieben werden kann: Einerseits leistet die BAG WHT wertvolle parteiinterne Übersetzungsarbeit zwischen Politik und Wissenschaft, andererseits sitzt sie dabei immer auch zwischen den zwei Stühlen „Wissenschaft“ und „Politik“. Die wissenschaftliche Gemeinschaft verknüpft unsere Partei häufig mit – teilweise durchaus zutreffenden – Vorurteilen. Scheinbar sind Wissenschaft und (grüne) Politik zwei Welten, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren und kaum etwas miteinander zu tun haben – und sich häufig mit Unverständnis begegnen. Vor diesem Hintergrund haben wir als BAG WHT einen Diskussionsprozess mit dem Ziel begonnen, eine grüne Perspektive auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zu finden. Damit wollen wir zu einem reflektierten Umgang mit Wissenschaft innerhalb der Partei beitragen.
Zwei zueinander konträre Haltungen zu Wissenschaft begegnen uns in unserer Partei immer wieder: Da ist zum einen eine Haltung der dezidierten Wissenschaftsskepsis, die bis zu einer Wissenschaftsfeindlichkeit reicht – und der Wissenschaft unterstellt, ohne jede ethische Verankerung zu agieren. Zum anderen findet sich eine Haltung fast schon naiver Technikgläubigkeit. Hier wird Anwendungen der Wissenschaft, nämlich Innovation und Technik, zugetraut, die großen gesellschaftlichen Probleme (Grand Challenges) zu lösen. Beide Haltungen prallen häufig aufeinander und erschweren die parteiinterne Auseinandersetzung mit Wissenschaft – insbesondere in ihrer Schlüsselfunktion für unsere grünen Pläne – unnötig. Denn beide Haltungen ignorieren, was Wissenschaft sein kann und sollte, wie sie funktioniert und wie sie in Wechselbeziehung zur Gesellschaft und zu unserer Politik steht.
Beide Haltungen verkennen zudem den eigenständigen Geltungsanspruch von Wissenschaft. Als BAG WHT halten wir ein Verständnis von Wissenschaft für wichtig, das weder ausschließlich an kurz- oder langfristiger gesellschaftlicher Nützlichkeit ausgerichtet ist, noch der Wissenschaft unterstellt, Handlangerin etwa „der Konzerne“ zu sein. Natürlich ist Wissenschaft kein machtfreier Raum. Natürlich gibt es hart aufeinanderstoßende Interessen. Ebenso steht Wissenschaft auch immer in einer gesellschaftlichen Verantwortung, die insbesondere von der Politik eingefordert werden muss. Aber der Kern von Wissenschaft ist ein anderer. Dieser Kern ist durch Neugierde definiert – darauf bezieht sich das Grundgesetz, wenn es dort heißt, dass Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind. Grüne Wissenschaftspolitik muss auch eine an dieser Freiheit orientierte Politik sein.
Kurzum: Wir brauchen eine Wissenschaftspolitik, die eine vielfältige Wissenschaft stärkt und die kurzsichtige Orientierung an Moden und dem „Mainstream“ verhindert. Neugier- und Grundlagenforschung muss genauso ermöglicht werden, wie zweckgerichtete und anwendungsorientierte Forschung oder Forschung mit aktueller gesellschaftlicher Relevanz.
Daraus folgt:
- Wir müssen als grüne politische Akteure Wissenschaft verstehen, um gute Arbeit und Verantwortung in der Wissenschaft fördern zu können.
- Wir brauchen ein klares Verständnis davon, was Wissenschaft zu politischen Entscheidungen beitragen kann, ohne als Alibi missbraucht zu werden und
- eine klare Position, was Wissenschaft von grüner Politik erwarten kann, um gut arbeiten und ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahrnehmen zu können.
II. Wissenschaftliches Wissen im Politikbetrieb und in der Gesellschaft – was braucht die Politik von der Wissenschaft?
Politik ist auf Fakten und Einschätzungen, Erkenntnisse und Empfehlungen von WissenschaftlerInnen angewiesen, um sich komplexe Sachverhalte zu erschließen und den eigenen Meinungsbildungsprozess fundiert gestalten zu können. Wissenschaft soll – so auch unsere grüne Vorstellung – hierfür faktenbasierte Entscheidungsgrundlagen liefern und verschiedene Entscheidungspfade und Alternativen aufzeigen. Das Ziel dabei ist es, den politisch Verantwortlichen den Raum des Möglichen aufzuzeigen und sie zu Blick- und Perspektivwechseln zu bewegen. Wissenschaft soll ihnen Informationen und Methoden in die Hand geben, um Alternativen mit all ihren Chancen und Risiken gegeneinander abwägen zu können.
Die Politik bedarf der Wissenschaft jedoch nicht nur für die Bereitstellung von Entscheidungsgrundlagen. Vielmehr sind mittel- und langfristige wissenschaftliche Prognosen gewissermaßen ein Frühwarnsystem, das es der Politik ermöglicht, frühzeitig auf sich abzeichnende Entwicklungen zu reagieren. Von Bedeutung ist hierbei weniger, schon heute die Antworten auf die Fragen von übermorgen zu kennen, sondern vielmehr, eine Vorstellung des Unbekannten zu entwickeln. Zum politischen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen gehört der Mut, mit dem Unbekannten auch wissenschaftlich umgehen zu wollen, also zum Beispiel Folgenabschätzungen wissenschaftsgeleitet anzugehen.
Für beides braucht es gegenseitiges Verständnis. Um dieses differenzierte Miteinander fruchtbar zu gestalten, sollten PolitikerInnen ein Grundverständnis für wissenschaftliche Logiken und Kompetenzen im Umgang mit wissenschaftlichem Wissen entwickeln (scientific literacy). Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass es keine „alternativlose“ Wissensbasis gibt, auf die sich die Politik berufen kann. Letztverbindliche Entscheidungen kann die Wissenschaft niemals treffen, dafür ist sie nicht zuständig, denn die politische Verantwortung liegt bei den durch Wahlen legitimierten PolitikerInnen.
Allerdings sieht der Alltag oft anders aus. Problematisch wird das Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Wissen und Politik dann, wenn wissenschaftliche Empfehlungen von EntscheidungsträgerInnen missbraucht werden, um (unpopuläre) Entscheidungen als alternativlos darzustellen und Verantwortung von sich zu weisen, oder wenn zur nachträglichen Legitimierung von Entscheidungen „Gefälligkeitsgutachten“ eingeholt werden. Genau das wollen wir mit grüner Wissenschaftspolitik nicht unterstützen!
Aber auch die Zivilgesellschaft hat Ansprüche und Erwartungen an Wissenschaft. Im Unterschied zu institutionell verankerten Erwartungen der Politik und den marktvermittelten Ansprüchen der Wirtschaft sind diese allerdings häufig diffus, weit weniger artikuliert und erst recht nicht konkretisiert. Hier bedarf es eines Aufbaus von Handlungskapazitäten und hier müssen neue Arenen geschaffen werden. Es ist Aufgabe der Politik, die Mittel dafür bereit zu stellen, dass zivilgesellschaftliche Akteure in die Lage versetzt werden, ihre Fragen an das Wissenschaftssystem heranzutragen. Dies kann beispielsweise im Rahmen öffentlich finanzierter Forschungsprogramme geschehen, die eine Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und WissenschaftlerInnen vorsehen.
Gerade wegen der großen (und sicher noch steigenden) Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für politische und gesellschaftliche Prozesse ergibt sich hieraus zugleich eine starke Verantwortung für die Wissenschaft selbst, und zwar hinsichtlich der Qualitätssicherung. Diese Aufgabe kann niemand außerhalb des Wissenschaftssystems glaubhaft und erfolgreich wahrnehmen. Politik und Gesellschaft müssen sich darauf verlassen können, dass Standards wie Reproduzierbarkeit und Intersubjektivität eingehalten werden.
Daraus folgt:
- Politik braucht Wissenschaft, um möglichst fundierte Informationen und ggf. Empfehlungen für aktuelle politische Entscheidungen zu bekommen.
- Politik braucht Wissenschaft, um Probleme von morgen möglichst früh erkennen zu können.
- Politik muss Wissenschaft verstehen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.
- Politik muss Sorge dafür tragen, dass relevante Themen und Fragestellungen der Gesellschaft Eingang finden können in die Wissenschaft, auch dort, wo sie zunächst eher diffus und schwer greifbar erscheinen.
- Wissenschaft braucht funktionierende interne Strukturen, um die eigene Qualität immer wieder neu zu sichern und zu überprüfen. Methodenvielfalt und allgemein geltende Regeln zu guter wissenschaftlicher Arbeit sind dabei genauso wichtig, wie die Überprüfung der internen Arbeitsbedingungen.
III. Wissenschaft als Innovationsmotor und bezahlte Problemlöserin?
Der konkrete Anspruch, den die Politik – über die eben diskutierten Erwartungen hinaus –an die Wissenschaft richtet, ist es, die großen Herausforderungen der Gesellschaft zu „lösen“. Unsere Welt steht heute vor einer Reihe großer Probleme (Grand Challenges), wie die Bedrohung durch einen menschengemachten Klimawandel, den Verlust biologischer Vielfalt, der Knappheit von Wasser und anderen Ressourcen. All diesen Problemen ist gemein, dass sie schon heute Ursache von Konflikten, unfreiwilliger Migration und Zerstörung von Lebens- und Zukunftsgrundlagen sein können. Und es ist davon auszugehen, dass der zunehmende Kampf um Ressourcen in der Zukunft noch zu weitaus größeren Konflikten führen wird. Es besteht also aus grüner Sicht ein gerechtfertigtes gesellschaftliches Interesse daran, dass Wissenschaft sich nützlich macht, um genau dem entgegenzuwirken.
Es ist zu hoffen, dass technische und soziale Innovationen zur Lösung dieser Probleme beitragen können. Ähnlich, wie es bereits mit Blick auf den volkswirtschaftlichen Beitrag von wissenschaftlichen Erkenntnissen geschieht, orientiert sich damit die öffentliche Forschungsförderung verstärkt auf die Hoffnung, dass Wissenschaft, so sie nur zielgenau finanziert wird, diese konkreten Probleme schon lösen wird. Wissenschaftspolitik und -finanzierung jedoch darauf zu beschränken, ist aus grüner Sicht ein Irrweg.
Welche technischen und sozialen Innovationen und Herangehensweisen sich bei der Lösung der großen gesellschaftlichen Fragen als weiterführend erweisen werden, ist heute noch nicht absehbar. Eine Wissenschaftspolitik, die ausschließlich die Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in marktfähige technische Lösungen beschleunigen will, untergräbt die eigene Basis. Die Chance, künftige Herausforderungen erfolgreich zu meistern, steigt mit der Vielfalt der verfolgten Lösungsstrategien. Daher brauchen wir die Grundlagen- und „Neugierforschung“, um die „Innovation“ von morgen zu sichern.
Dies betrifft alle Disziplinen. So ist der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur Genese sozialer Innovationen unverzichtbar, um nur ein Beispiel zu nennen. Alle Wissenschaften gemeinsam bilden den Reflexionsraum der Gesellschaft, in dem neues Denken und neues Handeln ausprobiert werden kann. Es muss deshalb unabhängig vom Fach möglich sein, einer fachlich fundierten Neugier nachzugehen, von der wir heute nicht wissen, wohin sie führen wird. Nur so wird die Lösungskompetenz der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen langfristig erhalten.
Ob grundlagen- oder anwendungsorientiert, die Freiheit wissenschaftlicher Forschung zieht Folgen nach sich, für die die Wissenschaft Verantwortung übernehmen muss. Ein extremes Beispiel dafür ist das Manhattan-Project (1942 bis 1946), das als konzertiertes wissenschaftliches Großprojekt die Entwicklung der Atombombe zum Gegenstand hatte. Es hat uns zum ersten Mal mit der Möglichkeit der menschengemachten Zerstörung unseres Planeten konfrontiert. Heute haben sich die Möglichkeiten einer Zerstörung der Welt, wie wir sie kennen, vervielfältigt. Dies rührt an den Grundlagen unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation, denn nicht wenige der Ursachen hiervon sind Folgen folgenverantwortungsloser Wissenschaft.
An dieser Stelle setzt nun die vom Wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltfragen, von vielen WissenschaftlerInnen, aber auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteuren vorgeschlagene Große Transformation an; eine Idee, die auch von vielen Grünen geteilt wird. Die Große Transformation wäre menschheitsgeschichtlich der dritte große Umbruch nach neolithischer (der Ablösung der Jäger- und Sammler Kulturen durch Sesshaftigkeit und Landwirtschaft) und industrieller Revolution und hätte Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit zum Ziel. Im Unterschied zu den beiden historischen Revolutionen soll diese allerdings – so die Idee – gesteuerter verlaufen. Dementsprechend soll „transformative“ Wissenschaft von Anfang an in Bezug auf ihre Folgen reflexiv eingebunden sein.
Damit stellt sich die Frage nach der Planbarkeit menschheitsgeschichtlicher Umbrüche. Es gibt keine Garantien, dass das, was wir heute als Transformationswissen und als transformative Wissenschaft ansehen, den Weg für die Große Transformation bereitet. Dies ist damit eine Option, aber beileibe nicht der einzige Weg, wie Wissenschaft betrieben werden kann. Das Wissenschaftssystem kann gut einen Ausbau seiner transformativen Potentiale vertragen, ohne dass dies allerdings disziplinäre Wissenschaft ersetzen kann. Angesichts knapper Staatshaushalte und zum Teil systematisch unterfinanzierter Forschungseinrichtungen bedeutet dies, dass geredet – und möglicherweise politisch entschieden – werden muss.
Eine Politik, die zu wissen meint, in welchen Branchen oder Feldern die höchsten Innovationspotentiale sind, und danach Wissenschaft finanzieren will, begibt sich auf den Holzweg. Öffentlich finanzierte Wissenschaftspolitik muss sich ebenso für die langen Linien interessieren – und damit ein Korrektiv zu kurzfristig gedachter Schwankungen der Wissensmärkte sein –, als auch kurzfristige Programme für aktuelle Fragen aufsetzen.
Das heißt für uns: Grüne Innovationspolitik muss offen für die zielgerichtete, problembezogene Erforschung wissenschaftlicher Grundlagen sein, weiß aber auch, dass es bei Wissenschaft nicht nur um den Nutzen, sondern auch die Träume von heute und morgen geht. Innovationen sind nicht nur neue Technologien auf bekannten Märkten, sondern Innovation ist eben gerade auch die Durchsetzung neuer Praktiken und neuer Ideen – da, wo sie ihre Wirkung entfalten können.
IV. Politik und Staat als Garanten für ‚Grundbedürfnisse’ der Wissenschaft
So wie Politik heute nicht ohne Wissenschaft gedacht werden kann, lässt sich Wissenschaft ohne Politik nicht denken. Das beginnt schon bei der Finanzierung von Wissenschaft: Schließlich verdient Wissenschaft kein Geld und beschäftigt sich mit Fragen, deren Antworten heute – und vielleicht auch morgen – noch keine Zahlungsbereitschaft abrufen. Andererseits kann sie genau deshalb die Gesellschaft voranbringen, eben weil sie nicht auf Märkte ausgerichtet ist. Um dies zu erhalten, braucht sie die öffentliche Hand, also Staat und Politik – quasi als Treuhänder dieser Funktion des Wissenschaftssystems. Andere Akteure, die dies uneigennützig oder marktfern wahrnehmen könnten oder wollten, sind weit und breit nicht erkennbar. Kaum jemandem wäre gedient mit einem Wissenschaftssystem, dessen ProtagonistInnen dazu gezwungen wären, flexibel überall dort nach einem Auskommen zu suchen, wo Geld geboten wird. Schließlich haben nicht alle, die Fragen haben, auch die Mittel, um diese bearbeiten zu lassen. Die Erfahrungen mit der zu intensiven Drittmittelausrichtung im Wissenschaftsbereich verweisen deutlich auf die Konsequenzen, die es hätte, wäre Wissenschaft gezwungen, sich ausschließlich solchen Logiken zu beugen.
Neben der Finanzierungsfunktion kommt dem Staat – und damit der Politik – aber auch die wichtige Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Wissenschaftsinstitutionen verlässlich zu gestalten. Kommt ein Staat dieser Verantwortung nicht nach, kann ein nationales Wissenschaftssystem in der Bedeutungslosigkeit versinken. Ferner obliegt es dem Staat, auf die innere Verfasstheit wissenschaftlicher Organisation zu achten. Dieser demokratische Anspruch versteht sich nicht von selbst, denn in der Wissenschaft geht es um Wahrheitsfragen, die von der Sache her nicht Gegenstand von politischer Abstimmung sein können. Gerade deswegen ist die Balance zwischen akademischer Selbstverwaltung und wissenschaftsimmanenter Selbststeuerung einerseits und andererseits von politischer Seite her eingeforderte und gesetzlich oder über andere Instrumente durchgesetzte gesellschaftliche Normen und Werte wie die Gleichstellung der Geschlechter, die Freiheit von Diskriminierung oder auch ArbeitnehmerInnenrechte nicht einfach zu erreichen. Wissenschaftsinstitutionen brauchen hierfür interne Governancestrukturen, die dies befördern. Diese zu beschreiben und umzusetzen erfordert Fingerspitzengefühl und ein gegenseitiges Verständnis von Politik und Wissenschaft füreinander.
Und: Wissenschaftliche Gemeinschaften sind auf einen externen Partner, mit dem sie über Relevanzen verhandeln können, angewiesen. An genau dieser Stelle ist wiederum Politik gefragt, die zum Beispiel Forschungsprogramme auflegen kann, um damit Zielmarken für wissenschaftliche Entwicklungen zu setzen. Dies betrifft sowohl den konkreten Anwendungsbezug als auch die übergreifende Entwicklung der Wissenschaften. Allerdings hat Politik diese Verantwortung in der Vergangenheit nicht immer in einer Weise wahrgenommen, die beispielsweise dem Entstehen disziplinärer Monokulturen – etwa in den Wirtschaftswissenschaften – entgegengewirkt hätte.
Daraus folgt:
- Wissenschaft ist darauf angewiesen, dass die öffentliche Hand ihre ‚Grundbedürfnisse’ garantiert, um nicht in außerwissenschaftliche Abhängigkeiten zu geraten. Es ist Aufgabe von Staat und Politik, diese Garantie zu übernehmen.
- Wissenschaft braucht zudem interne Governance-Strukturen, die die Werte und Normen der Gesellschaft achten – eine streng hierarchisch organisierte Universität in einer demokratischen Gesellschaft wird beispielsweise immer große Schwierigkeiten verursachen.
V. Verantwortliche Wissenschaft in der Gesellschaft braucht political literacy
Eine Gesellschaft, die sich aus der Überzeugung heraus, dass dies richtig und notwendig ist, eine unabhängige Wissenschaft leistet und ihr Freiräume bietet, erwartet, dass diese Freiheit in Verantwortung wahrgenommen werden. Dies gilt sowohl in Bezug auf das Ausfüllen der eigenen Rolle für und in der Gesellschaft, die interne Organisation der Arbeitsstrukturen als auch für die Sicherung der Qualität. Es muss zudem eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit der Gesellschaft, die diese ermöglicht hat, zur Verfügung gestellt werden müssen.
Wissenschaft steht in der Verantwortung, die Ergebnisse ihrer Arbeit transparent zu kommunizieren. So sollte sie Forschungsergebnisse in allgemein verständlicher Sprache (d.h. zum Beispiel auch für interessierte Laien) veröffentlichen, Ergebnisse in einen Kontext setzen und Überblickswissen schaffen. Sie steht durchaus vor der Aufgabe, ihre jeweilige Arbeit in Bezug zu gesellschaftlichen Problemen zu setzen oder bei konkreten Problemstellungen verschiedene Lösungsvorschläge anzubieten (Alternativenzwang). Wenn eine Frage oder ein Problem nicht gelöst werden kann, müssen Unsicherheiten deutlich gemacht werden – nur so können Gesellschaft und Politik auf diese Arbeit aufbauen.
Aus grüner Sicht ist diese Diskussion wünschenswert: Es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet WissenschaftlerInnen ihre Fähigkeiten nicht in zivilgesellschaftliche Debatten einbringen sollten. Allerdings verbindet sich dies, ähnlich wie wir von der Politik eine scientific literacy wünschen, mit dem Wunsch nach einer political literacy der zivilgesellschaftlich oder politisch aktiven WissenschaftlerInnen. Diese political literacy würde etwa Einschätzungswissen darüber beinhalten, was Wissen wie in der Gesellschaft verändern und bewirken kann, ebenso wie Wissen darüber, wo die Grenzen des auf wissenschaftlicher Basis Sag- und Entscheidbaren liegen und wo das Reich der politischen Aushandlung anfängt.
Nicht zuletzt ist Politik als Instanz gefragt, die kontinuierlich die ethische Selbstkontrolle der Wissenschaft einfordert. Diese ethische Verantwortung der Wissenschaft sollte zwar im Räsonieren über Relevanzen und Forschungspraxen enthalten sein, ist es oft aber nicht. Dies ist insbesondere immer dann der Fall, wenn die Folgen ihres Forschungshandelns den WissenschaftlerInnen selbst gar nicht begegnen. Hier sind Ethikkommissionen der Wissenschaft betreibenden Organisationen ebenso gefragt, wie die Politik. Gerade den Parlamenten obliegt hier eine Dialog- und Kontrollfunktion.
Für uns gilt darum: Grüne Wissenschaftspolitik ist ein Balanceakt zwischen der Sicherung der unterschiedlichen Voraussetzungen einer Wissenschaft, die unabhängig und ohne Diktat von Markt, Moden oder Erwünschtheiten sein kann, einerseits und dem Einfordern von ethischer und gesellschaftlicher Verantwortung und Relevanz andererseits. Wissenschaftliches Wissen ist zunehmend stärker Grundlage von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dies erfordert sowohl scientific literacy auf der einen Seite, als auch eine Art political literacy auf der anderen. Wissenschaft trägt zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bei, ohne darauf reduzierbar zu sein. Die Verantwortung der Politik gegenüber der Wissenschaft ist demgegenüber eine doppelte: Auf der einen Seite steht die Finanzierung und der verlässliche Schutz gerade der „Neugierforschung“, die nur die öffentliche Hand sicherstellen kann. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der Politik, immer wieder den Dialog über die ethische Verantwortung der Wissenschaft einzufordern, und auf der Umsetzung von demokratischen Strukturen, Geschlechtergerechtigkeit und Nichtdiskriminierung zu bestehen.
Dieser Diskussionsanstoß entstand in der AG Wissenschaft & Politik der BAG WHT, einer Gruppe von FachpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen aus Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und WissenschaftsmanagerInnen. An diesem Papier mitgearbeitet haben: Benjamin Bechtel, Reinhold Glasl, David Hellwig, Nicole Hohmann, Justus Lentsch, Eva Marie Plonske, Martin Scheuch, Anja Schillhaneck, Anne Katrin Werenskiold, Till Westermayer, Carsten von Wissel (in alphabetischer Reihenfolge). Rückfragen und Anmerkungen bitte an die SprecherInnen der BAG Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik, Anja Schillhaneck MdA (anja.schillhaneck{at}gruene-fraktion-berlin.de) und Till Westermayer (till{at}tillwe.de)
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