Rede zur Aktuellen Stunde „Bildung für alle – gebührenfrei“
von Kai Gehring MdB im Plenum des Deutschen Bundestages am 26.11.2009
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Vorrednerin, Ihr Beitrag ist sicherlich ein Beispiel für ein neues Ständedenken in unserem Bildungssystem gewesen und dafür, wie der Begriff Bildungsgerechtigkeit entkernt und geradezu pervertiert werden kann. Das ist nicht unser Verständnis von Bildungsgerechtigkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Auch der zweite bundesweite Bildungsstreik in diesem Jahr hat unsere Unterstützung. Es ist ein starkes Signal und ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft, wenn Schülerinnen und Schüler und Studierende für gleiche Bildungschancen, für bessere Studienbedingungen und gegen soziale Spaltung in unserem Bildungs- und Hochschulsystem protestieren.
Dazu gehört übrigens auch, für längeres gemeinsames Lernen zu werben. Bildung ist ein Menschenrecht und keine Ware. Schüler und Studierende sind mündige Bürger und keine Kunden auf Bildungsmärkten. Das sind die gesellschaftlichen Debatten, die jetzt anstehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich gebe zu: Frau Ministerin Schavan, Sie haben offenbar dazugelernt. Noch im Juni haben Sie dieselben Forderungen der protestierenden Studierenden als „gestrig“ abgekanzelt. Momentan können sich die Streikenden vor Ihren Solidaritätsbekundungen kaum retten. Die Schüler und Studierenden wollen aber keine Lippenbekenntnisse; sie erwarten unverzüglich konkrete Maßnahmen, spürbare Ergebnisse und Verbesserungen in den Klassenzimmern und Hörsälen. Wenn Sie, Frau Schavan, nicht als Bundesankündigungs- und -beschwich-tigungsministerin in die Geschichtsbücher eingehen wollen, dann müssen Sie jetzt unverzüglich handeln und müssen für ein gerechteres Bildungssystem sorgen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])
Wir als Grüne haben längst Konzepte vorgelegt, wie sich eine chancengerechte Bildungsrepublik bauen ließe. Wir fordern eine tiefgreifende Reform der vielerorts schlecht umgesetzten Bologna-Reform. Das Studium muss entfrachtet, studierbar und flexibler werden anstatt verschult, verdichtet und überstrukturiert. Dabei muss endlich Schluss sein mit dem permanenten Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund, Ländern und Hochschulen. Nein, die Korrektur muss jetzt angepackt werden.
Wir fordern einen Pakt für Studierende, der 500 000 Studienplätze schafft und unsere Hochschulen endlich auch für Nichtakademiker öffnet. Wir fordern den Abbau von Zugangshürden und die Abschaffung von Studiengebühren, wie es in Hessen gelungen ist und wie es im Saarland verabredet wurde. Wir wollen darüber hinaus einen Ausbau der staatlichen Studienfinanzierung zu einem Zwei-Säulen-Modell, und zwar mit einem elternunabhängigen Sockel für alle und einer sozialen Komponente für diejenigen, die es brauchen. Das wären echte Bildungsreformen, die zu mehr Gerechtigkeit und Teilhabe führen. Dazu fehlen Schwarz-Gelb offenbar Mut und Kraft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Noch schlimmer: Offenbar wird Frau Schavan gerade oberste Insolvenzverwalterin ihrer Möchtegernbildungsrepublik. Wir wissen ja, dass unserem Bildungssystem pro Jahr 20 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen im Vergleich zum OECD-Schnitt fehlen. Was machen Sie, statt diese eklatante Unterfinanzierung zu überwinden? Sie reißen immer neue Milliardenlöcher in den Bundeshaushalt: mit der Abwrackprämie, eingeführt zu Zeiten der Großen Koalition, jetzt mit Steuergeschenken für Besserverdienende und für Lobbyverbände. Das geht so nicht. Wenn das Bundeskabinett jetzt Steuersenkungen beschließt, dann entzieht es der Bildungsrepublik die finanzielle Grundlage und wird Bildungskürzungen in den Ländern und in den Kommunen hervorrufen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])
Daher gehören Steuersenkungen eingemottet; sonst verkommt die Bildungsrepublik gänzlich zum Märchenland.
Es wird aber noch doller: Die Rechnungen für Frau Schavans Feuerwerk an Ankündigungen landen zum Großteil bei den Ländern, sei es für das ungerechte Stipendiensystem, die vage BAföG-Erhöhung oder die unterfinanzierten Wissenschaftspakte. Sie stehen sozusagen auf dem Sonnendeck des Bundes und bestellen Champagner, während die Ländermannschaft im Maschinenraum verdurstet. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wer bestellt, der muss auch zahlen, und deshalb Butter bei die Fische bei der Bildungs- und Studienfinanzierung!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben als Grüne längst einen Finanzierungsvorschlag gemacht: Wandeln Sie doch einfach den Soli Ost in einen Bildungssoli um! So lässt sich der gesamtstaatliche Bildungsaufbruch finanzieren, anstatt ihn durch Steuersenkungen abzuwürgen. Den Bildungssoli können Sie übrigens auf dem Bildungsgipfel II im Dezember genauso verabreden wie die Korrektur Ihrer bildungsfeindlichen Föderalismusreformen. Ich denke, hier im Haus werden Sie Unterstützung finden, das unsinnige Kooperationsverbot wieder abzuschaffen; es gehört entsorgt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Letzter Punkt. Wenn Sie schon ankündigen, dann setzen Sie, bitte, wenigstens die richtigen Prioritäten, statt falsche Weichen zu stellen. Mit einer BAföG-Erhöhung machen Sie einen Trippelschritt vorwärts zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Mit Bildungssparkonten für Reiche und Stipendien für Privilegierte machen Sie zwei Riesenschritte rückwärts.
(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])
Wenn man die für das Stipendiensystem vorgesehenen Mittel nehmen würde, könnten Sie hier sofort einen Gesetzentwurf vorlegen und das BAföG um 10 Prozent erhöhen. Darauf warten wir. Das BAföG auszuweiten, das ist wichtiger als ein Stipendiensystem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Jetzt noch die Länder zu erpressen nach dem Motto: „BAföG-Erhöhung gibt es nur, wenn die Stipendien kommen“, das geht so nicht.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Das ist der goldene Zügel!)
– Ja, das ist doch klar. Das ist der goldene Zügel. Das ist Erpressung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir sagen ganz klar: „Privat vor Staat“ ist das falsche Rezept für Bildungsreformen. Ein Kurswechsel im Bildungssystem ist überfällig: für mehr Chancengerechtigkeit, für höhere Bildungsinvestitionen, für bessere Institutionen und Strukturen und für eine höhere Qualität.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn Schwarz-Gelb einen solchen Kurswechsel einleitet, dann haben sich die Bildungsstreiks gelohnt. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
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